Shroud - Das entartete Geschlecht

Prolog

301.
Die Sonne war untergegangen, obwohl es noch Nachmittag war. Dies war durchaus nicht ungewöhnlich für die Jahreszeit in Achiltibuie, dem kleinen Ort ein paar Meilen nordwestlich von Ullapool, wo die Fähren zu den nahe gelegenen Atlantikinseln an- und ablegten. Das Örtchen in den Western Highlands lag zwar malerisch direkt an der Küste, war aber auch den Unbilden des Wetters umso mehr ausgesetzt. Touristen gab es in Ullapool, wie die Einwohner sagten, und auch das erst ab Mitte Mai. Hierher kamen allein die Leute, die von der A 835 falsch abgebogen waren. Für sie gab es ein paar wenige B&B Guestquarters und einen Pub, der zwar gemütlich war, aber all das gab es zuhauf in Ullapool und in Schottland überhaupt. In diesem Jahr – wie auch in den Jahren zuvor – hatte man seit Mitte September des Vorjahrs keinen Touristen mehr gesichtet in Achiltibuie. Keinen außer einem.
276.
Irgendwann Ende Januar war er gekommen, und morgen würde der junge Mann aus London mit seiner Limousine wieder verschwunden sein. Jetzt war es Ende April, und die Saison für verirrte Touristen konnte jederzeit beginnen.
241.
Natürlich hatten sich die Einwohner des Küstenortes inzwischen an ihn gewöhnt, wenn sie ihn auch nicht oft zu Gesicht bekamen. Groß war er, deutlich über einsachtzig, vielleicht sogar einsneunzig, dabei war er schlank, sehnig, fast hager von Gestalt. Die wenigen jüngeren Frauen, die in dem Nest lebten, fanden ihn wohl attraktiv mit dem schmalen Gesicht, in dem die ausdrucksstarken Augen dominierten. Es waren traurige Augen, dachte jeder, der einmal hineingesehen hatte, traurig mit einem Anklang von Zorn. Alte Augen, dachte McCullough, der Bauer, bei dem der Fremde einen kleinen Raum unter dem Dach bewohnte. Das kastanienbraune Haar des Mannes war kurz geschnitten und leicht gewellt und setzte sich in einen sauber gestutzten Vollbart fort, der dem Gesicht mit dem schmallippigen Mund und der scharfgeschnittenen Nase etwas von seiner Härte nahm.
Schon sehr früh am Morgen, so erzählte der alte McCullough, stand sein Gast auf und verließ leise das Haus. Ein paar mal hatte der Alte beobachtet, wie er im Hof Übungen gemacht hatte, um sich aufzuwärmen und die Muskeln zu lockern. Bei jedem Wetter. Dann war der Fremde losgelaufen, raus aus dem Ort. Fünf oder zehn Meilen, jeden Tag. Anschließend duschte er und frühstückte mit der Familie, die aus McCullough selber, seiner Frau Catriona und Sohn Angus bestand, der mit dem Vater zusammen ein paar Dutzend Schafe hielt und ein kleines Stück Ackerland bewirtschaftete.
Später fuhr der junge Gast dann mit seinem großen Wagen, einem französischen Modell, wie Angus wusste, durch die Gegend, besichtigte die Landschaft oder kaufte ein, oder er blieb in seinem kleinen Quartier und las oder machte sonstwas. Nachmittags, wenn er nicht unterwegs oder in seinem Zimmer war, war wieder Sport an der Reihe. Hinten im Hof, wo man ihm nicht so leicht zusehen konnte, machte der Mann Übungen, die für den Alten wie ein wilder Tanz aussahen. Es waren Drehungen, Sprünge, Hiebe und Tritte. Angus behauptete, es wäre Kampfsport. Kung Fu oder so etwas.
Abends aß der Mann dann oft bei der Familie, oder er fuhr nach Ullapool oder Poolewe oder Gairloch zum Essen. So oder ähnlich, das erzählte der alte McCullough, war es jeden Tag.
169.
Ja, sie hatten sich an ihn gewöhnt, den jungen Mann mit den merkwürdigen Gewohnheiten. Daran, dass er wenig sprach, aber nie unfreundlich war. Jeder, der ihm einen Gruß zurief, wurde wieder gegrüßt. Und abends, wenn er wie manchmal den Pub aufsuchte, mit ihnen den einen oder anderen Pint Ale oder Stout trank und auch den würzigen Single Highland Malt nicht verschmähte, da unterhielt er sich mit ihnen. Er erzählte von London, der Stadt, die für die meisten Einwohner Achiltibuies so weit entfernt lag wie Peking und mindestens so fremd war.
Sie hatten sich sogar daran gewöhnt, dass der junge Mann ständig, auf Schritt und Tritt, eine Schusswaffe bei sich hatte. Es war eine Automatikpistole, wie der junge Angus angab. Niemand befragte den seltsamen Gast hierzu, und von sich aus sprach er nicht über dieses Thema. Jedoch war diese Waffe immer da, meistens in einem Schulterhalfter unter dem Arm, seltener in einem Hüfthalfter an seiner rechten Seite.
84.
Die Zeit verging, und der Augenblick des Abschieds war nahe. Einmal noch saß der junge Mann im Pub mit den Einwohnern des Dorfes, sang mit ihnen – er hatte einen grauenhaften Akzent, klang irgendwie amerikanisch, wie Angus bemerkte – und trank ein paar Pints.
36. Doppel 18.
Gelegentlich hatte er auch mit einigen Einwohnern Darts gespielt. Ein paarmal gewann er sogar.
Am nächsten Morgen, nach dem Frühstück, lud er seine Taschen in sein Auto und verabschiedete sich von den McCulloughs. Es war der achtzehnte April, und es regnete heftig.
„Leben Sie wohl, Mister McCullough!“ sagte er noch und stieg ein.
„Leben Sie wohl, Mister Shroud“, antwortete der alte Mann, als der Wagen bereits langsam von seinem Hof rollte.
Fast vier Monate hatte der junge Mann unter seinem Dach gelebt. Was wusste der alte Mccullough nach dieser langen Zeit von ihm?
Wenig mehr als den Namen.
Shroud.

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Kapitel 1

Eine andere Welt.
Megalopolis.
Ein anderes Wort fiel dem jungen Mann nicht ein, als er sich dem Zentrum der Metropole von Norden kommend näherte. Er befand sich schon geraume Weile auf dem Boden des Molochs, der nicht umsonst Greater London hieß, fuhr mit seinem Wagen, einem Peugeot 406 Coupé, seit fast einer Stunde innerhalb der Stadtgrenzen, und näherte sich endlich dem historischen Kern der Hauptstadt. Der Verkehr hatte kontinuierlich zugenommen, der Tag kulminierte in der abendlichen Rush Hour.
London.
Während Greater London nahezu 1600 Quadratkilometer umfasst, sind es in der City Of London gerade mal knapp drei. Stadt der Gegensätze. Auch bei den Einwohnerzahlen gibt es dieses krasse Missverhältnis: über sieben Millionen Menschen in Greater London, in der City noch nicht einmal fünftausend. Einer von diesen fünftausend war ironischerweise – so kam es dem Mann jetzt vor – er selber.
Shroud empfand diese Tatsache deshalb als ironisch, weil das Dorf, in dem er die letzten Wochen verbracht hatte, bei weitem nicht einmal an diese fünftausend Bewohner herankam – so viele Menschen hatten in Achilltibuie noch nie gewohnt. Und dennoch waren fünftausend Einwohner ein prozentual betrachtet so winziger Anteil an all den Millionen, dass er irgendwo jenseits der zweiten Dezimalstelle verschwand. Auch Shroud fühlte sich von der Megacity, von ihrer schieren Größe und Wucht erdrückt.
Eine fremde Welt.
Nach der langen Fahrt durch Schottland und fast ganz England hinunter brauchte er jetzt, da die City Of London unmittelbar vor ihm lag, nicht mehr allzu lange, um seine Wohnung in der Lime Street zu erreichen, jener kleinen Stichstraße zwischen Leadenhall und Fenchurch Street. Wie er die letzten Meilen vor sich hin fuhr, sah er Flugzeuge, die vom London City Airport aufstiegen oder dort landeten. Mit einemmal kam ihm der Gedanke, dass er vermittels der neuen Angebote der sogenannten Low-Cost-Carriers, der Billigflieger, in nur wenig mehr als einer Stunde von Glasgow nach London gekommen wäre. Er hatte aber das Auto benutzt.
Warum einfach, wenn es auch umständlich geht? Das war eine Frage, die er sich in letzter Zeit oft hatte stellen müssen. Seit jener Zeit, als er versucht hatte, sich als Privatdetektiv eine Existenz aufzubauen, war sein Leben nicht eben leichter geworden. Er, der Karatemeister, der Yankee, der nach Großbritannien gekommen war, um anderen Menschen zu helfen, er hatte lernen müssen, dass er zuweilen nicht einmal sich selber helfen konnte. Er hatte den Preis für seine jugendliche Arroganz bezahlt, und es war ein hoher Preis gewesen: Verletzungen des Körpers, teils schwerster Natur, verursacht durch Prügeleien und Schießereien, Wunden, an denen er sogar fast gestorben wäre; und Verletzungen der Seele, die ihm zugefügt worden waren von seinesgleichen, von Menschen, denen er hatte helfen wollen, die ihn aber nur benutzt hatten.
Der Körper war geheilt. Von diesen Verletzungen zeugte nur noch reichlich vernarbtes Gewebe, viel mehr allerdings, als ein Mann von gerade mal dreißig Jahren normalerweise haben sollte. Anders sah es jedoch mit den Wunden aus, die man seiner Seele – oder welchen Begriff man immer für den inneren Kern der Persönlichkeit eines Menschen wählen mag – geschlagen hatte. Diese Wunden heilen schwer, manchmal gar nicht, und die Narben davon sieht man nur in den Augen, in den traurigen melancholischen Blicken, die den Schmerz der Innenwelt widerspiegeln. Hier, das hatten auch die Bewohner des kleinen schottischen Dorfes gesehen, waren die eigentlichen Blessuren dieses Mannes.
Je näher der Mann jetzt seiner Wohnung, seiner selbst gewählten Heimat kam, desto stärker wurde die Bitterkeit in ihm, und er fühlte sich fremder als jemals zuvor in diesem Monstrum einer Stadt.
Das Monster lebte. Shroud hatte es aus der Ferne mitbekommen. Die Stadtplaner waren rühriger als all die Jahre zuvor. Das Millennium hatte seine langen Schatten vorausgeworfen, und in diesen Schatten regten sich die Geister des Umbruchs. Shroud hatte es in den Nachrichten gehört, London müsse in das dritte Jahrtausend eintreten, es müsse eine neue Ära für Großbritannien einleuten, die für Wachstum und Prosperität stehen müsse und für das Wohlergehen aller Menschen. Wer’s glaubt!
Jedenfalls waren die Stadtplaner aus ihrem Jahrzehnte dauernden Dornröschenschlaf erweckt worden, und mit der selben Arroganz ihrer Vorgänger aus den siebziger Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts gingen sie wieder daran, das alte, das bewährte und schöne London niederzureißen und an seiner Stelle ihre Überheblichkeit aus Stahl und Glas in seine Skyline zu schreiben, wie immer ohne Rücksicht auf Verluste. Was verkauft wurde als Fortschritt, als behutsame Synthese zwischen alt und neu, das war in Wirklichkeit nichts als das Flammenschwert der westlichen Gesellschaften, das Wachstum heißt und das Strukturen, mochten sie noch so historische Wurzeln haben, hinwegbrannte und ersetzte durch die Hybris des Kapitalismus. Aus Vierteln, die einst geprägt waren durch organische Gefüge aus Wohn- und Arbeitsraum, wuchsen jetzt babylonische Türme gen Himmel als Zeichen einer Gesellschaft, in der der Einzelne nur zu gerne dem angeblichen Wohl der Allgemeinheit geopfert wurde. Auch vor der Strafe Gottes, der Sprachverwirrung ob der Blasphemie, hatten die Planer und Architekten des neuen London keine Angst mehr. Wozu auch, denn schon sehr lange verstanden die Regierungen auf dieser Insel und anderswo nicht mehr die Sprache des einfachen Menschen.
Vielleicht, so dachte der junge Mann melancholisch bei sich, ist das ja der Platz, der ihm vom Schicksal zugedacht war, der Platz unter diesen Menschen, die dem System doch nur noch Dornen im Profit waren. Mit diesen Gedanken lenkte Shroud den Peugeot in die Lime Street und hielt direkt vor Nummer acht, wo erstaunlicherweise ein Parkplatz frei war.
Er holte die beiden Reisetaschen vom Rücksitz des Sportcoupés, fischte seinen Wohnungsschlüssel aus einer der Seitentaschen, verschloss den Wagen, öffnete die Haustür und betrat endlich den Flur des Hauses. Dunkel und wenig einladend lag der enge Gang vor ihm. Er ging hinein, öffnete den Postkasten – es waren kaum Briefe darin, denn die Post hatte ihm wichtige Schreiben nachgeschickt, und sein Nachbar hatte die Reklamesendungen entsorgt. So hielt er eine Einladung zu einem Benefizkonzert zugunsten einer Drittewelt – Ladenkette und einen Prospekt über neue Modelle seiner Automarke in der Hand. Er hatte sich vor einigen Monaten einen Peugeot gekauft, der ihm schon immer gut gefallen hatte. Shroud fand es schon lange erstaunlich, aber diese Marke war in Großbritannien recht weit verbreitet.
Dann, irgendwann, stand er vor seiner Wohnungstür. Und schloss sie auf.
So war er wieder zu Hause.
Zu Hause.
Welch einen seltsamen Klang hatte dieser Begriff. Shroud war in den vergangenen fast eineinhalb Jahren nicht sehr oft hier gewesen. Zunächst hatte er sich einer längeren Krankenhausbehandlung unterziehen müssen. Dann fand die daran anschließende Rehabilitationsmaßnahme statt. Dann kam eine Gerichtsverhandlung, in der er als maßgeblicher Zeuge auftreten musste. Danach schließlich war er nach Schottland gefahren – oder besser gesagt: geflüchtet.
Und jetzt war er wieder hier. Zu Hause.
Die Wohnung war leidlich aufgeräumt und recht sauber. Sein Nachbar, ein Musiker, der sich selbst Blues nannte, hatte dafür Sorge getragen. Nachdem Shroud seine Sachen in die Wäsche gegeben hatte, inspizierte er den Kühlschrank. Es war eine Grundaustattung mit Lebensmitteln vorhanden. Blues hatte sogar einige Flaschen Kilian’s Red Ale aufgetrieben und kalt gestellt. Der Heimkehrer bereitete sich ein paar Sandwiches mit Roastbeef, Zwiebeln und einer Würzsauce zu, nahm eine Flasche Bier und setzte sich vor den Fernseher. Schaltete ihn an. Verfolgte die Nachrichten der BBC. Schaltete wieder ab.
Genau so milchig wie das Bild des TV – Gerätes kam ihm die Wirklichkeit vor. Die Mattscheibe konnte man vom Staub befreien, das Bild würde dann wieder klar sein. So einfach würde das bei seinem Leben nicht funktionieren.
Shroud blickte auf die Uhr. Es ging auf Mitternacht zu. Er hatte insgesamt drei Flaschen Bier getrunken, und das Sandwich lag ihm schwer im Magen. Es war zu spät, um den Nachbarn aufzusuchen, zu spät, um noch zu duschen. So nahm der junge Mann ein Buch aus seinem Regal, zog sich bis auf die Unterwäsche aus und ging ins Schlafzimmer. Er öffnete das Fenster und legte sich ins Bett. Es war ein sehr bequemes, großes Bett, mit einer wirklich guten Matratze. Besser als in dem schottischen Örtchen. Auch das Klima war milder als im Norden, ein sanfter Wind wehte ins Schlafzimmer und sorgte für angenehme Luft. Zu seiner Überraschung fühlte Shroud sich zu müde, um noch zu lesen. So löschte er das Licht und war tatsächlich kurz hierauf eingeschlafen.
Es war eine andere Welt.
Eine fremde Welt.


Interludium: Newsflash

Familientragödie in Spitzenunternehmen
Wie unsere Polizeireporter herausgefunden haben, handelt es sich bei dem Tod der Gebrüder Leonard und William Creighton um eine Familientragödie. Die Creightons, die gemeinschaftlich in der Im- und Exportbranche tätig waren und das Weltunternehmen Transpoplex leiteten, sind in Folge verbrecherischer Umtriebe ums Leben gekommen. Dabei wurde Leonard Creighton mutmaßlich von seinem jüngeren Bruder William erschossen, der daraufhin Selbstmord beging. Somit bestätigen sich auf furchtbare Weise die Recherchen, die unsere Redaktion hinsichtlich der Beteiligung von Transpoplex am internationalen Waffen- und Drogenhandel angestellt hat. Angestoßen wurden die Ereignisse durch Nachforschungen eines Privatdetektivs mit Namen Shroud, der gegen Leonard Creighton im Zusammenhang mit der Ermordung von mehreren anderen Privatdetektiven ermittelt hat. Mister Shroud wurde durch die spektakuläre Aufklärung der Entführung des McPhornem – Erben berühmt. Er wurde im Laufe seiner Nachforschungen sowie im Zusammenhang mit dem Tod der Gebrüder Creighton mehrfach schwer verletzt. Sein augenblicklicher Aufenthaltsort wird von der Polizei, namentlich dem Dezernat für Gewaltverbrechen unter Chief Inspector Michael Peter Metcalfe, geheim gehalten. Wir bleiben natürlich am Ball und werden in Kürze neue Enthüllungen veröffentlichen.
Aus „The Daily Mirror“

 

Transpoplex vor der Zerschlagung
Das weltweit tätige Im- und Exportunternehmen Transpoplex wird in Folge von nachweislichen Verstrickungen in den internationalen Drogenhandel und Beteiligung an Waffengeschäften im großen Stil liquidiert. Dies ist der Beschluss der Gesellschafter von der gestrigen Generalversammlung nach Veröffentlichung der Ermittlungsergebnisse der Londoner Staatsanwaltschaft. Sir Lawrence Bitterfield, erster Kronanwalt ihrer Majestät, sagte auf einer Pressekonferenz: „Die Verstrickung des Unternehmens in das internationale organisierte Verbrechen geht weit über alle bereits angestellten Vermutungen hinaus.“
Laut Sir Lawrence war neben anderen Vorstands- und Aufsichtsratsmitgliedern vor allem Leonard Creighton, Gründer und Vorstandsvoritzender der Transpoplex, für diese Verstrickungen verantwortlich. Creighton wurde nach den Ermittlungen des Dezernats für Gewaltverbrechen der Metropolitan Police von seinem jüngeren Bruder William, Vizedirektor der Transpoplex, erschossen. William Creighton war offensichtlich geisteskrank. Hierzu der leitende Ermittlungsbeamte, Chief Inspector Metcalfe: „William Creighton litt nach unseren Ermittlungen an einem ausgeprägten paranoiden Verfolgungswahn, ausgelöst durch die lebenslange Dominanz seines älteren Bruders. Infolge dieses Wahns beauftragte William in den letzten vier Jahren eine Reihe von in London arbeitenden Privatdetektiven mit Ermittlungen gegen seinen Bruder, ließ diese dann aber, sobald sie sich Leonard genähert hatten, von Auftragskillern umbringen. Dies geschah aus der so starken wie irrationalen Angst heraus, sein Bruder könne ihm auf die Schliche kommen. Der letzte in der Reihe dieser Detektive, Mister Shroud, überlebte den gegen ihn gerichteten Mordanschlag und fand die wahren Hintergründe heraus. Leonard, mit diesen Fakten konfrontiert, wurde in der Folge von seinem Bruder erschossen. Daraufhin beging William Selbstmord.“
Vor allem die umfassende Aussage von Dr. Paul Gallegly, der William psychotherapeutisch betreute, konnte die Ermittlungsergebnisse der Polizei bestätigen und neue, Aufsehen erregende Fakten beisteuern.
Die Staatsanwaltschaft führte weitere Ermittlungen gegen das Unternehmen Transpoplex hinsichtlich der kriminellen Machenschaften durch. Hierzu Sir Lawrence: „Die Arbeit der Dezernate für Gewalt- und Wirtschaftsverbrechen offenbart ein dichtes Geflecht mafioser Strukturen. So machen die Gewinne aus ungesetzlichen Geschäften mit Drogen, Waffen und anderen illegalen Waren, die zum Teil gegen das Embargo für Rüstungsgüter verstoßen, den Hauptteil des Geschäftsergebnisses der Unternehmung aus. Eine Firma jedoch, die den Großteil ihrer Gewinne illegal erwirtschaftet, hat keine gesetzliche Handelsgrundlage.“
Der Beschluss der Gesellschafter der Transpoplex unter Vorsitz der Erbin von Leonard Creighton, seiner Frau Roseanna, war deswegen nur folgerichtig. Der Antrag auf Liquidierung der Firma wurde den zuständigen Behörden bereits eingereicht. Die Gelder aus der Liquidierung sollen, so Mrs. Creighton, in eine gemeinnützige Stiftung fließen. Dies sei allerdings vorbehaltlich weiterer Ermittlungen der Steuerfahndung, wie die Staatsanwaltschaft verlauten ließ.
Aus „The London Times“


Millionenabfindung für Privatdetektiv
Laut unseren Quellen bei der Metropolitan Police wurde der Privatdetektiv Shroud, der die Ermittlungen, die zur Zerschlagung des kriminellen Konzerns Transpoplex führten – wir haben ausführlich darüber berichtet – für seine erlittenen Verletzungen mit einem hohen Geldbetrag abgefunden. Die Rede ist von einer Summe deutlich über einer Million Pfund Stirling.
Die kriminellen Machenschaften ihres Mannes Leonard, so die Witwe Roseanna Creighton, waren erst kürzlich in ihrem vollen Umfang ans Licht der Öffentlichkeit gekommen. Mister Shroud habe unter den Folgen von mindestens zwei Mordanschlägen gegen ihn zu leiden gehabt. „Zwar ist er derjenige“, so Mrs Creighton in einem Statement, „der die Ermittlungen erst in Gang gesetzt hat, die zur Ermordung meines Mannes führten, aber er ist natürlich nicht verantwortlich für die Verbrechen meines Gatten.“ So sehr sie der Tod von Leonard Creighton auch bekümmere, so die Witwe weiter, so wolle sie doch wenigstens mit einem großzügigen Betrag einen Teil des Schadens wiedergutmachen, der Mister Shroud widerfahren sei. Das Vermögen ihres Mannes und die Erlöse aus der Liquidation der Transpoplex wurden in eine gemeinnützige Stiftung eingebracht, die, so Mrs. Creighton weiter, „noch viel Gutes bewirken wird.“
Der erste Nutznießer dieser Generosität, der Privatdetektiv Shroud, war zu keiner Stellungnahme bereit. Zur Zeit befindet er sich offensichtlich, so ergaben unsere Nachforschungen, nicht in London.
Aus “The Sun”

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Kapitel 2

„Verdammter Narr!“
Die Stimme des Mannes ging beinahe unter im heftigen Prasseln des Regens.
Er stand vor einem schmucklosen, nur mit Bodendeckern bepflanzten Grab auf dem Streatham Park Cemetary und blickte auf den schlichten Grabstein aus grauem Granit. Der Name, der dort in Großbuchstaben eingemeißelt war, lautete Barnaby Steven Float.
„Float“, sagte der Mann leise.
Der kleine Friedhof befand sich nördlich des ausgedehnten Mitcham Common, kaum ein paar Meilen östlich von Wimbledon. Es war nicht leicht gewesen, das Grab zu finden, in dem jener Mann namens Float seine letzte Ruhe gefunden hatte. Auch hier war die ungeheure Größe des Molochs London ein Hindernis gewesen.
Shroud, denn niemand anderer war der Mann, der dort im Regen vor der Grabstätte stand, hing seinen traurigen Gedanken nach. Dies war bisher nicht einer seiner besten Tage gewesen, und nichts deutete darauf hin, dass sich daran etwas ändern sollte.
Am Morgen, nach dem Laufen und dem Training in seinem Übungsraum, hatte er kurz gefrühstückt und dann bei seinem Nachbarn geklingelt. Dass Blues – an den bürgerlichen Namen des Musikers konnte sich Shroud kaum erinnern – in der Nacht erst spät nach Hause gekommen war, hatte er nicht mitbekommen, obwohl er in letzter Zeit nicht viel schlief. Dass Blues ihn deswegen jedoch anbrüllte, ihn einen verdammten Narren schimpfte, damit hatte er nicht gerechnet. Blues, jener verschroben wirkende, einsiedlerisch lebende Bassgitarrist, war der letzte von den Mietern des Hauses, die Shroud noch kannte. Während seiner langen Abwesenheit waren alle anderen Mitbewohner aus den unterschiedlichsten Gründen ausgezogen. Am schmerzlichsten vermisste er den Literaturwissenschaftler Ken Cereghty, der an der Universität in London gelehrt und den er als väterlichen Freund mehr als geschätzt hatte.
Ken, der ihm die Welt der Bücher erschlossen hatte. Der ihn veranlasst hatte, sich in Literatur und Geschichte, Wissenschaft und Politik einzulesen; der ihm ganze Welten erst zugänglich gemacht hatte: der Waliser war an seine heimatliche Universität nach Cardiff zurückgekehrt.
David, der kleine Mann mit dem struppigen Vollbart, der ihm bei der Lösung seines ersten Falles geholfen hatte, David hatte seine Anstellung in der Photofabrik verloren und war in einen Außenbezirk Londons gezogen, wo die Mietpreise nicht so hoch waren wie in der City.
So war in der Zeit seiner Rekonvaleszenz seine ganze kleine Welt auseindergefallen.
Neben dem gespannten Verhältnis zu Blues machte ihm noch ein anderer Gedanke Sorgen, ein Gedanke, den er, so oft er nur konnte, unterdrückte oder beiseite schob: der Gedanke an Katharina. Katharina Riedmann, die junge Deutsche, die an der London University englische Literatur studierte, die er auf einer Party bei Blues kennengelernt und in die er sich praktisch sofort verliebt hatte, hatte sich schon vor Zuspitzung der Geschehnisse, die in einem Rausch von Gewalt geendet hatten, von ihm zurückgezogen. Es war gar nichts zwischen ihnen gewesen, ein gemeinsam verbrachter Nachmittag, ein flüchtiger Kuss, und trotzdem hatte die junge Frau sein Herz fest mit Beschlag belegt. Er hatte sie viele Monate lang nicht mehr gesehen, nichts mehr von ihr gehört, aber dennoch überfiel ihn der Gedanke an ihr warmes Lächeln, ihr von honigblonden Haaren umflossenes, wunderschönes Gesicht oft so unvermittelt, dass ihm vor Sehnsucht der Atem zu stocken drohte.
Jetzt jedoch, als er auf diesem Friedhof stand, langsam vom Regen durchnässt wurde und auf das Grab zu seinen Füßen starrte, jetzt dachte er an keinen dieser Menschen. Nicht an Katharina. Nicht an die anderen. Jetzt dachte er nur an Barnaby Float.
Denn er war es, der ihn getötet hatte.
Er hatte keine Wahl gehabt, denn sonst läge jetzt er in irgendeinem Erdloch, vermutlich ähnlich schmucklos wie dieses. Keine Blumen, kein Grablicht. Barnaby Steven Float hatte schon zu Lebzeiten alle Brücken hinter sich abgebrochen. Dass Shroud erst nach dessen Tod so viel über Float erfahren hatte, empfand er fast schon als Ironie des Schicksals.
Shroud zog seinen Regenmantel zurecht, als ihm ein kaltes Rinnsal in den Kragen und am Nacken entlang den Rücken hinunter lief und sein Hemd nässte. Eigentlich machte das Wetter dem jungen Mann nichts aus, in Schottland war er ganz andere Witterungen gewöhnt gewesen. Doch wirkte der Regen hier, in der Millionenmetropole, irgendwie störend, so als mache das Wetter sich über die hehren Errungenschaften der Zivilisation lustig.
Float.
Seine Gedanken verweilten bei dem Leichnam in dem Sarg hier unter der Erde. Er wusste nicht, wie Float jetzt aussehen mochte, er erinnerte sich aber sehr genau, wie der Leibwächter der Creightons nach jenem schicksalhaften letzten Kampf ausgesehen hatte.
Shroud hatte ihn in einem wilden Anfall von nackter Wut und Raserei, ausgelöst durch die grauenhaften Schmerzen des Kampfes und das Blut, das ihm aus zahlreichen Wunden strömte, fürchterlich zugerichtet. Dennoch hatte Float ihn ein weiteres mal, ein letztes mal, mit einer Axt attackiert. Der Detektiv hatte ihm mit einer Schrotpistole ins Gesicht geschossen. Nein, schlimmer als damals konnte Float jetzt, in seinem Grab, auch nicht aussehen.
Sicher, es war Notwehr gewesen – ein schwacher Trost für Shroud, der zutiefst erschrocken darüber war, was aus ihm geworden war. Was gewissenlose Menschen aus ihm gemacht hatten. Er war nicht viel mehr gewesen als eine Marionette, die ihre Haltefäden auch noch selbst gewebt hatte. Viel zu spät erst hatte er das erkannt, und endlich hatte er die Fäden zerschneiden können. Shroud hatte mit Entsetzen erkennen müssen, wozu er jetzt in der Lage war: die wilde, unmenschliche Raserei, gegen die er sich nicht hatte wehren können, die nackte Wut, durch die er sich in einen wahren Blutrausch hinein gesteigert hatte. Wie schnell war die dünne Tünche der Zivilisation von ihm abgeplatzt und hatte etwas tierhaftem, gefährlichem Platz gemacht, das offenbar tief in seinem Unterbewusstsein darauf gelauert hatte, freizukommen. Dies hatte Float das Leben gekostet.
Seit diesem Tag hatte Shroud in steter Furcht davor gelebt, es könne wieder geschehen, die Bestie in ihm könne wieder erwachen.
„Warum hast du mich angegriffen?“
Er wusste, er würde keine Antwort erhalten, aber die Frage beschäftigte ihn immer und immer wieder. Er verstand diese kranke Form von Loyalität nicht, die Barnaby Float auch nach dem Tod seiner Bosse, der Brüder Creighton, noch dazu gebracht hatte, ihn zu attackieren.
Vielleicht, so dachte der junge Mann, während der Regen bereits seine Hemdbrust durchnässte, fühlte Float sich damals so sehr von allen verlassen wie er selber jetzt, in diesem Augenblick dieses Gefühl hatte. Er würde es nie erfahren.
„Verdammter Narr!“, sagte er abermals sehr leise, dann wandte er sich endlich ab und verließ den Friedhof.
Er fuhr nach Hause, duschte warm und zog sich neue Kleidung an. Dann ging er hinunter in den Keller, den er direkt von der Wohnung aus erreichen konnte und der eigentlich eine zweite, voll ausgebaute Wohnebene war, und öffnete seinen Waffenschrank. Dort hingen sie in ihren Halterungen.
Seine Schusswaffen.
Die Mossberg – Flinte.
Die Ruger Double Action.
Die Harrington & Richardson.
Die Larry LWS.
Die zweite Sig Sauer.
Er zog die Sig, die er immer mit sich zu führen gewohnt war, aus dem Halfter an seiner Hüfte, entnahm das Magazin und schob sie in die Halterung im Schrank. Dafür nahm er die kleine Larry und ließ sie in der Hosentasche verschwinden. Eigenartigerweise fühlte er sich ohne Waffe nicht sicher, nicht einmal mehr in seinen eigenen vier Wänden.
Die Larry LWS wog nur wenig, sie hatte ein kleines Kaliber, war aber mit tückischem Schrot geladen. Diese Waffe hatte Float getötet. Den Gedanken daran verdrängte Shroud umgehend.
Er verschloss den Schrank sorgfältig und ging hinauf ins Erdgeschoss, um etwas zu essen. In seinem Kühlschrank herrschte mal wieder gähnende Leere. Die Vorräte reichten gerade noch für ein paar Sandwiches mit alter Wurst und welkem Salat.
Shroud aß eines der Brote, zwei weitere warf er in den Abfalleimer. Er musste dringend einkaufen. Ein Blick aus dem Fenster zeigte ihm, dass der Regen aufgehört hatte. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite zeigte sich sogar ein Streifen Sonnenlicht an der Hauswand.
Albert’s Market, ein Delikatessengeschäft, lag nur wenige Minuten Fußweg von seiner Wohnung entfernt. Shroud nahm kurz entschlossen eine trockene Jacke aus dem Schrank, steckte etwas Geld ein und machte sich auf den Weg. An der Haustür überlegte er kurz, ob er die Sig aus dem Keller holen sollte, entschied sich dann aber dagegen. Schließlich wusste er die kleine Larry in seiner Tasche, und immerhin wollte er nur einkaufen.
Der Marsch durch die Straßen, die vom reichlich gefallenen Regen glänzend sauber waren, tat ihm gut, und tief atmete er die Luft ein, die heute gar nicht so sehr nach Abgasen stank, sondern eher nach der nahen Themse roch. Nach knapp zehn Minuten hatte er Albert’s Market erreicht. Es handelte sich um einen relativ kleinen Laden mit einer sehr guten Auswahl internationaler Spezialitäten. Das Preisniveau war hoch, aber die Ware war jeden Penny wert. Shroud nahm einen Einkaufskorb und schritt an den Regalen entlang. Er füllte den Korb mit italienischer Pasta, chinesischen Gewürzsaucen, frischem Gemüse und Obst und kaufte an der Fleischtheke Hähnchenbrust und verschiedene Wurstwaren. Hinzu kamen eine Tüte englischer Weingummis, die er von Zeit zu Zeit sehr gerne mochte, und gute belgische Vollmilchschokolade. Er schmunzelte kurz darüber, dass der Name der Schokolade übersetzt „Goldküste“ bedeutete. Schließlich legte er noch eine Flasche Whisky in den Korb. Highland Park von den Orkney Islands, Single Malt, 18 Jahre alt. Wie immer blieb er vor dem Regal mit den kleinen Bierfässchen stehen. Nur hier bekam man Kilian’s Red Ale, ein mildes Bier, dass Shroud für sein Leben gerne trank. Wie meistens jedoch nahm er keines der Fässchen mit, schließlich war er zu Fuß unterwegs und konnte so nicht unbegrenzt viel mitführen. Stattdessen nahm er noch einen Träger mit sechs Flaschen Diet Pepsi am Griff und machte sich auf zur Kasse.
Es war wenig los um diese Tageszeit, nur zwei Männer in langen Regenmänteln standen dort und redeten auf Albert, dem der Markt gehörte, intensiv ein. Anscheinend hatten sie nicht das bekommen, was sie haben wollten, denn mit verkniffenen Gesichtern gingen sie an Shroud vorbei auf den Ausgang zu. Der junge Mann hörte noch, wie einer der beiden im Vorbeigehen leise sagte:
„Verdammter Narr!“

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Kapitel 3

„Keine Zeit, Mann!“
Mit diesen kurzen Worten schob Blues sich, mit einem riesigen Gitarrenkoffer in der einen und einem Campingbeutel in der anderen Hand, an Shroud vorbei. Die Tür zur Wohnung seines Nachbarn fiel ins Schloss, und der bärbeißige Musiker war aus dem Haus, ohne auf eine Erwiderung zu warten.
Shroud seufzte leise, zuckte mit den Schultern und kehrte in seine Wohnung zurück.
Einige Wochen waren vergangen, und Shroud hatte begonnen, sich wieder zu Hause einzuleben. Der Sommer war in London eingezogen, und es gab wirklich eine Reihe schöner, warmer Tage in der Millionenstadt. Der junge Mann nutzte das gute Wetter und wanderte oft einfach ziellos durch die Straßen und Parks der City und der umliegenden Bezirke. Er hatte, anders als sein umtriebiger Nachbar, alle Zeit der Welt.
Endlich besuchte er auch eine Reihe von Museen, die ihn noch vor zwei Jahren nicht im Mindesten interessiert hätten. Vor allem die National Portrait Gallery hatte es ihm angetan, und er verbrachte viele Stunden vor den Gemälden und Fotos oft längst verstorbener Persönlichkeiten. Daneben – Segen der Weltstadt – gab es eine Unzahl anderer Museen, die ihn interessierten und die er nach und nach besuchte. Besonders begeistert war er vom Museum Of The Moving Image und vom Science Museum.
Hierüber konnte man beinahe übersehen, dass London eine Stadt im Umbruch war. Ein kleines Indiz hierfür waren die vielen Coffeeshops, die im Lande der Teetrinker eröffneten und so die Vielzahl der heiß getrunkenen Varianten noch um einiges erweiterten. Einige italienische und französische Spezialitäten fanden schnell den Zuspruch des gebürtigen US – Amerikaners, der aus seiner Heimat in der Provinz der New England – Staaten nur den einfachen, oft bitter schmeckenden, schwarzen Kaffee kannte. Café au lait, Capuccino und Co schmeckten ihm da schon ganz anders.
Viel Zeit verbrachte Shroud auch weiterhin damit, seine körperliche Form zu erhalten und auszubauen, denn das hatte er sich in vielen Jahren angewöhnt. So lief er wieder jeden Morgen sehr früh los und brachte seine acht bis zehn Meilen ein. Auf diese Weise erlebte er manch schönen Sonnenaufgang über der Metropole, und manchmal gönnte er sich nach dem Lauf und der notwendigen Dusche sogar ein opulentes Frühstück in einem Coffeeshop, was ihm aber irgendwie dekadent vorkam. Nachmittags war dann eine Runde in seinem Trainingsraum an der Reihe, wo er hauptsächlich Kampfsport trainierte. Karate. Die Katas absolvierte er routiniert und ausdauernd, aber ihm fehlte die Übung mit einem Partner, das Kumite.
Abends entdeckte er das vielfältige Nachtleben Londons, besuchte Kinos, Theater und Musicals, ging in eines der unzähligen internationalen Restaurants und probierte die Küche so mancher Nation. Seine Vorliebe galt eindeutig den asiatischen Variationen, aber auch andere Völker kochten gutes Essen. Und am nächsten Tag konnte man die eine oder andere Sünde ja wieder abtrainieren...
So hatte der junge Mann ein ausgefülltes, sehr sinnenreiches Leben – aber dennoch fühlte er sich sinnentleert.
Ihm fehlte die Ansprache eines echten Freundes, und außer den Nachbarn in seinem Haus kannte er kaum Leute. Von diesen neuen Nachbarn jedoch blieben ihm die meisten völlig fremd, anonyme Menschen, die ihrem Broterwerb nachgingen, ohne sich viel um ihre Mitbewohner zu bekümmern. Ein jeder kreiste um seine eigene kleine Welt – und Shrouds Welt war einsam.
Seit Blues offenbar immer erfolgreicher seine Musik spielte, war er kaum noch zu Hause, und wenn, dann war er meistens nicht ansprechbar, denn er übte oder schlief dann viel.
So war Shroud unter vielen Millionen Menschen dennoch der Anonymität der Großstadt ausgesetzt. Das war eines von zwei Problemen, die der junge Mann im Laufe der Zeit erkannte. Das zweite – und das wog für ihn noch viel schwerer als die Einsamkeit – war: ihm fehlte der Sinn seines Lebens.
Er lebte in den Tag hinein und gönnte sich einiges, doch dieses Dasein war ihm auf Dauer nicht genug. Trotz des vielen Geldes, über das er verfügte, war er kein Müßiggänger und wollte auch keiner sein.
Eines Morgens, er hatte seinen Lauf hinter sich gebracht und bereits geduscht, stand er vor dem Spiegel im Badezimmer und warf ganz bewusst einen Blick in die Unendlichkeit. Das konnte er, weil in gleicher Höhe hinter ihm an der Wand ein zweiter Spiegel montiert war, und die beiden einander gegenüberliegenden Reflexionsflächen erzeugten unendlich viele Abbilder seiner selbst, wenn er dazwischen stand. All diese Ebenbilder zeigten ihm, was mit seinem Leben nicht stimmte: sie waren flach, und ihre Konturen wurden in der Ferne immer undeutlicher, unwirklicher. Besser hätte Shroud sein Leben nicht zu beschreiben vermocht: Sein Dasein war diffus, ohne wirkliche Tiefe, sinnlos.
Geld allein machte ihn eben nicht glücklich.
Nachdem er sich angezogen hatte, überlegte er, was er mit dem jungen Tag anfangen wollte. So recht fiel ihm nichts ein. Er hatte keine Motivation, in ein Museum zu gehen, und ein Frühstück in einem Coffeeshop wollte er auch nicht einnehmen. Statt dessen machte er sich ein Rührei und aß es ziemlich lustlos zu einigen Scheiben Toastbrot. Dazu trank er eine Tasse Earl Grey Tea. Es musste ja nicht immer Kaffee sein.
Nach dem Frühstück fand er sich immer noch mit dem Problem konfrontiert, was er mit dem Tage anfangen wollte, und immer noch fiel ihm nichts passendes ein. Er schaltete den Fernseher ein, aber die seichte Vormittagsunterhaltung, unterbrochen nur von Grausamkeiten im Zwanzig – Sekunden – Rhythmus, genannt Nachrichten, stieß ihn schnell ab.
Draußen hatte sich der Himmel bezogen, und es sah nach Regen aus.
Shroud seufzte und griff nach einem Buch. Es war eine Geschichte Japans, verfasst von einem Japaner, was laut Klappentext zum ersten Mal in dieser Form realisiert worden war. Shroud wunderte sich darüber und las sich in den Text ein und fand das Buch sehr kurzweilig und informativ, so dass der Vormittag gerettet schien. Wie er so dasaß, meinte er plötzlich etwas gehört zu haben, dass wie ein Wimmern geklungen hatte. Er horchte, aber das Geräusch wiederholte sich zunächst nicht. Also las er weiter.
Dann, Shroud hatte gerade das Buch zur Seite gelegt, um etwas zu trinken, hörte er das Geräusch erneut. Diesmal klang es mehr wie ein Weinen, und außerdem war eine gedämpfte Stimme zu hören, die sehr erregt klang. Der junge Mann stand auf und öffnete das Fenster, das auf die Straße führte, aber dort ging nur ein einsamer Passant durch den leichten Regen, der mittlerweile eingesetzt hatte. Shroud schloss das Fenster wieder – und hörte das Wimmern erneut. Es kam von oben.
Er hob den Kopf und lauschte. Ja, da war auch wieder die erregte Stimme, und dann schien das Weinen intensiver zu werden – und brach dann ab.
Shroud lauschte noch eine Weile, aber alles blieb ruhig. Er wunderte sich noch etwas über das Gehörte, aber dann widmete er sich wieder seinem Buch und hatte den Vorfall schnell vergessen.
Der Mittag kam, und nachdem Shroud einen frischen Salat zubereitet und gegessen hatte, arbeitete er sich in seinem Trainingsraum müde. Nach einer Dusche gönnte er sich deshalb ein Schläfchen, aus dem er erst am späten Nachmittag erwachte.
Aus der Wohnung nebenan klangen gedämpfte Gitarrenakkorde. Blues war also zu Hause und übte. Da Shroud mittlerweile wusste, dass sein Nachbar dabei nicht gestört werden wollte, entschloss er sich, einen Spaziergang zu machen. Das Wetter hatte aufgeklart, so dass er eine ausgedehnte Tour durch die City machte und auch einiges einkaufte. Mit zwei großen Tüten kehrte er dann im Grahame’s Seafare auf der Poland Street ein, wo man täglich frischen Fisch zu vernünftigen Preisen verzehren konnte. Er bestellte sich gegrilltes Filet von der Seebarbe und genoss den feinen Speisefisch mit verschiedenen Gemüsen und einem guten Glas Wein. So verging die Zeit, und gegen 21:30 Uhr war er wieder zu Hause.
Im Treppenhaus brannte Licht, und er hörte, nachdem er die Haustür hinter sich geschlossen hatte, erregte, gleichwohl gedämpfte Stimmen von oben herunter klingen. Stirnrunzelnd stellte er seine Einkäufe vor seiner Wohnungstür ab und ging die Stufen in den ersten Stock hinauf. Dort, am oberen Rand der Treppe, hatten sich einige Nachbarn versammelt, einer trug bereits einen Bademantel, als wäre er auf dem Weg ins Bett. Dann hörte Shroud die anderen Geräusche.
Er erinnerte sich plötzlich schlagartig: es waren die gleichen Laute, wie er sie am Mittag durch die Decke seiner Wohnung gehört hatte.
Ein Mann schrie.
Eine Kind wimmerte.
Eine Frau jammerte.
Dazwischen heftige klatschende Schläge, die helle Schmerzlaute nach sich zogen.
„Was zum Teufel ist hier los?“, sprach Shroud die Nachbarn an.
„Holman prügelt mal wieder seine Familie durch.“
Die Antwort einer Nachbarin klang sachlich ruhig und brachte Shroud deshalb um so mehr in Rage.
„Und was tut ihr dagegen?“
„Holman ist ein Schläger“, antwortete der Mann im Bademantel, „ich will nichts mit ihm zu tun haben!“
Die anderen murmelten zustimmend und nickten.
„Holman ist ein Schläger.“
Shroud fühlte Zorn in sich aufwallen.
„Das bin ich auch!“
Als ein besonders lauter Schmerzensschrei des Kindes ertönte, drängte er sich einfach zwischen den Gaffern hindurch, war an der Tür, hinter der sich das Drama abspielte, und trat sie ein.
Der berstende Knall ließ den Mann namens Holman in der Bewegung erstarren. Er hatte sein Kind, einen vielleicht sechsjährigen Jungen, an den Haaren gepackt und schwang mit der anderen Hand einen breiten Ledergürtel, der auf dem nackten Körper des Kindes bereits seine Striemen hinterlassen hatte. Einige Schritte weiter kauerte die Frau in einer Ecke, das Gesicht blutig und verquollen, die bloßen Arme von Blutergüssen übersät.
Shroud sah dies und konnte es doch nicht glauben. Holman, der Nachbar, war ein Hüne, bestimmt zwei Meter groß, mit dem Körper eines schwer arbeitenden Mannes, nur mit einer Baumwollhose und einem Unterhemd bekleidet, unter dessen schweißnassem Stoff mächtige Muskeln spielten. Holman sah ihn an, als könnte er seinerseits nicht glauben, dass jemand ihn in seiner Wohnung zu behelligen wagte. Es war der Blick eines von dumpfem Jähzorn und einer Menge Alkohol umnebelten Brutalos.
„Zur Hölle“, grollte der Hüne und ließ den Jungen los, der umgehend zu seiner Mutter kroch.
„Bastard!“
Shroud zerquetschte das Schimpfwort zwischen seinen Lippen. Er spürte eine Wut in sich, die ihn zu überwältigen drohte.
Holman war größer.
Er war viel stärker.
Er war der geborene Schläger.
Er hatte nicht die geringste Chance.
Shroud erwischte den Kerl, der sich wie ein Bulldozer auf ihn stürzte, mit einem Hagel eisenharter Faustschläge gegen Bauch, Brust und Kopf des Giganten. Holman stockte, als wäre er gegen eine Wand gelaufen. Aus seiner Nase schoss eine Blutfontäne.
Jetzt schrie er, ein wenig vor Schmerz, aber vor allem vor unkontrollierbarer tierhafter Wut. Als zwei Handkantenschläge seinen Hals trafen, ging der Schrei in einem Gurgeln unter. Weitere Hiebe trafen das Gesicht, bevor ein Mikatsuri – Geri, ein gewaltiger Tritt gegen die Brust, ihn fällte. Wie ein Baumstamm knallte Holman auf den Boden, zuckte noch kurz und verlor dann das Bewusstsein. Shroud stand da, vornüber gebeugt, hatte den erschlafften Körper seines Feindes am Unterhemd gepackt und musste sich beherrschen, nicht immer weiter und weiter auf den regungslosen Schläger einzudreschen.
Irgendwann erinnerte er sich an die Frau und das Kind, und langsam konnte er den flammenden Zorn zurückdrängen. Er sah die Beiden in der Ecke zusammengekauert, die Frau hatte das Kind umschlungen. Beide weinten Herz zerreißend. Auch die Nachbarn im Treppenhaus hatten sich vorsichtig genähert.
„Ruf einen Krankenwagen!“, herrschte Shroud den Mann im Bademantel an. „Und die Polizei!“
Die Frau, die vorher so gleichgültig gewesen war, ging jetzt zu den beiden Opfern und versuchte sie zu trösten.
Es war geschehen.
Die Realität hatte ihn eingeholt.
All die Zeit, die Shroud wieder hier war, hatte er sich bemüht, nicht daran zu denken. Und all die Museumsbesuche, die Shoppingtouren und die Stunden in den Cafés und Restaurants hatten fast ausgereicht, ihn davon zu überzeugen, dass die Vergangenheit tot war.
Die Vergangenheit, die Schmerz und Elend, Leid und Tod bedeutet hatte.
Und jetzt, hier, in dem Haus, in dem er lebte, hatte ihn diese Vergangenheit wieder eingeholt.
Die Polizisten, die ihn befragten, ahnten nichts von seiner seelischen Verfassung. Er antwortete kurz, sachlich und kühl. In ihm sah es freilich ganz anders aus. Mit seinen Antworten waren die Uniformierten soweit zufrieden. Jedenfalls nahmen sie ihn nicht mit.
Einer wollte seine Lizenz sehen.
Die Lizenz als Privatdetektiv.
Shroud zeigte sie ihm.
In der Zwischenzeit hatten Sanitäter den Schläger in einen Krankenwagen getragen und ins nächste Hospital gebracht. Er sah wirklich übel aus.
Zwei Ärztinnen bemühten sich um Mrs Holman und den Jungen. Shroud hatte die beiden kurz angesehen, beide standen verständlicherweise unter Schock. Auch sie wurden zur Sicherheit in ein Krankenhaus gebracht, eine Ärztin bestand aber darauf, dass es ein anderes war als das, in das der Mann eingeliefert wurde.
Dann, eine ganze Weile später, war Shroud in seine Wohnung zurückgekehrt, saß er auf seiner Couch und grübelte vor sich hin. Die Uhr zeigte schon fast elf, als es klingelte.
„Verdammt“, murmelte Shroud, erhob sich aber doch und öffnete. Den Mann, der jetzt vor seiner Haustür stand – wie war er eigentlich in den Hausflur gelangt? –  hätte er nie im Leben erwartet.
Michael Peter Metcalfe.
„Kann ich reinkommen?“
Keine Begrüßung.
Shroud trat beiseite und ließ ihn eintreten.
Michael Peter Metcalfe war ein sehniger Mann von mittlerweile Mitte vierzig, das Gesicht auch um diese Zeit glatt rasiert, die Frisur ordentlich gescheitelt. Das Haar war aschblond und sehr voll. Seine Züge waren streng und herrschsüchtig, vor allem die Augen blickten starr und funkelnd, als wolle er mit ihnen hypnotische Wirkung erzielen. Schmale Lippen und ein spitzes Kinn unterstrichen diesen Ausdruck noch.
Er trug einen grauen Einreiher und hatte einen leichten Sommermantel über dem Arm. Der Anzug saß sehr gut, die Bügelfalte war messerscharf und die Krawatte sauber gebunden. Das Hemd war frisch und blütenweiß.
Metcalfe war Polizist, aber nicht irgendein einfacher Detective. Er war der Chef des Dezernats für Gewaltverbrechen in der Metropolitan Police.
Die beiden Männer verband eine eigenartige Beziehung. Als Shroud seine Fälle als Privatdetektiv bearbeitet hatte, war er Metcalfe oft begegnet. Meistens waren dies keine angenehmen Begegnungen gewesen, dennoch hatte sich zwischen den beiden so ungleichen Männern eine Art Freundschaft entwickelt: der Polizist fühlte sich auf eine unerklärliche Weise für den jüngeren Mann verantwortlich.
„Was führt dich hierher?“
Die beiden saßen einander gegenüber in Shrouds Wohnzimmer. Sie hatten sich lange Zeit nicht mehr gesehen, hatten auch nicht miteinander telefoniert. Shroud fürchtete die Erinnerungen, die mit Metcalfe zusammenhingen, böse Erinnerungen. Der Polizist wiederum war zwar froh, dass es dem jungen Mann besser ging, dennoch ging es bei den meisten ihrer Begegnungen um Gewalt und Tod. Und das gefiel dem Beamten nicht. Davon hatte Metcalfe auch so schon mehr als genug zu bewältigen in seinem Alltag.
„Die Schlägerei“, antwortete der Besucher.
„Hat ein Chief Inspector nichts wichtigeres zu tun?“
Metcalfe schüttelte den Kopf.
„Detective Superintendent“, sagte er leise.
„Oh“, machte Shroud, „man hat dich befördert.“
„Ich habe den Tagesbericht gelesen“ erwiderte er und überging die Bemerkung, „dein Name ist mir aufgefallen.“
Der Polizist atmete schwer.
„Geht jetzt alles wieder von vorne los?“
Shroud verzog das Gesicht, als die Erinnerungen ihn zu überwältigen drohten.
„Was meinst du?“
„Das weißt du verdammt genau!“ schimpfte Metcalfe. „Bist du wieder aktiv?“
„Als Privatdetektiv?“
„Als Privatdetektiv.“
Shroud stand abrupt auf und begann, erregt hin und her zu gehen.
„Ist das deine ganze Sorge?“
Metcalfe senkte den Kopf, schüttelte ihn langsam. Dann sah er seinem Gegenüber fest in die Augen.
„Was hat es dir denn gebracht?“
„Du meinst, abgesehen von einer Mordsabfindung?“
„Scheiße, es geht dabei doch nicht um Geld!“
Shroud setzte sich schließlich wieder hin.
„Um was geht es denn dann?“
„Es geht“, sagte der Polizist sachlich, „um die Toten. Um viel zu viele Tote. Und du wärest um ein Haar einer von ihnen gewesen. Reicht dir das nicht?“
„Ob es mir reicht?“
Shroud war erneut aufgesprungen, hatte seine Wanderung durch das Zimmer wieder aufgenommen.
„Du hast ja keine Ahnung!“
„Ach wirklich?“ konterte Metcalfe.
Shroud blieb abrupt stehen, als wäre er vor eine Glasscheibe gelaufen. Ungläubig blickte er den Polizisten an, der dort in seinem Sessel saß und ihn mit grimmigem Gesicht musterte. Dann ging der junge Mann zu ihm hin, blieb unmittelbar vor dem Sessel stehe, so dass Metcalfe zu ihm aufsehen musste, und schrie ihn an.
„Ja, wirklich! Tatsächlich! In der Tat! Du hast keine Ahnung! Wie denn auch? Hast du auch nur einmal angerufen in all der Zeit? Mich besucht? Hat es dich je interessiert? Aber kaum erscheint mein Name in einem Polizeibericht, stehst du bei mir auf der Matte! Belästigst mich mit blöden Phrasen! Seit wann“, fügte er bissig hinzu, „ist die Metro Police hier in der City überhaupt zuständig?“
Metcalfe hörte sich alles ganz ruhig an, und durch diese Ruhe konnte auch Shroud nicht weiter herumbrüllen.
„Nein“, fuhr er deshalb in normaler Lautstärke fort und nahm abermals seine Wanderung auf, „ich bin nicht wieder aktiv. Kein Privatdetektiv Shroud. Keine Toten. Bist du beruhigt, Superintendent?“
Metcalfe stand auf und ging zur Tür. Dort angekommen, blickte er sich noch einmal um.
„Ja“, sagte er leise, „ich bin beruhigt.“
„Es ist fast komisch“, begann Shroud nach einer Weile erneut zu sprechen, „dass du hier so einfach auftauchst. Hast du dir den Bericht auch genau angesehen?“
Der Detective sah den jungen Mann genau an.
„Was meinst du?“
„Oh“, machte Shroud, „weiter nichts als die Tatsache, dass so ein Scheißkerl seine Frau und den kleinen Jungen einfach so zusammenschlagen kann. Derjenige, der aber hohen Besuch kriegt, bin ich. Und das“, jetzt klang seine Stimme bitter, „bei allem, was ich für euch getan habe!“
„Was du für uns getan hast“, wiederholte Metcalfe, mittlerweile mit lauerndem Blick. „Was bitte soll das sein?“
„Ach, habe ich euch nicht einen echten Gangsterboss vom Halse geschafft?“
Metcalfe starrte ihn an. In seinem Blick lag nun echte Überraschung.
„Vom Halse geschafft? Mann, du arroganter Narr hast ja keine Ahnung!“
Das war eine Retourkutsche ganz nach Art des Polizeioffiziers. Shroud fühlte, wie der Zorn ihm das Rückgrat hinaufkroch.
„Was zur Hölle soll das denn bedeuten? War Creighton etwa kein Gangster?“
„Natürlich war er einer“, platzte der Polizist hinaus, „aber jetzt, wo er tot ist, hinterlässt er ein gewaltiges Machtvakuum in der Hierarchie des Mobs. Ihn aus dem Weg zu räumen war nun wirklich kein Gefallen!“
„Das kann ja wohl nicht wahr sein!“
Shroud verstand die Welt nicht mehr. Die Tatsache, dass Creighton sich wirklich als ein Anführer des Syndikats erwiesen hatte, war noch ein kleiner Trost für Shroud gewesen. Wenigstens war so die ganze Gewalt, das Leid nicht umsonst gewesen.
„Was glaubst du denn?“ blaffte Metcalfe ihn an. „Durch Creightons Tod haben wir hier alle Hände voll zu tun, um einen offenen Bandenkrieg zu verhindern! Der Machtkampf um seine Nachfolge ist voll entbrannt!“
„Ich glaub das einfach nicht“, Shrouds Stimme klang verzweifelt, „ich schaffe euch den Obergangster aus dem Weg und werde jetzt dafür auch noch angemacht. Und kaum taucht mein Name in einem Scheiß – Bericht auf, reißt du mir persönlich den Arsch auf!“
Angewidert blickte er den Polizisten an.
„Verpiss dich!“
„Du hast Recht“, sagte Metcalfe dann, bevor er aufstand und zur Tür ging, „ich bin wirklich nicht zuständig.“
Dann öffnete er sie und zog sie hinter sich wieder ins Schloss.
„Ja“, schimpfte Shroud weiter leise in der leeren Wohnung, „verpiss dich, Superintendent!“
Er atmete tief durch. Das war eine Begegnung, auf die er gerne verzichtet hätte, jedenfalls unter diesen Vorzeichen. Shroud überlegte, ob er zur Beruhigung einen Whisky trinken sollte, entschloss sich aber spontan dagegen. Alkohol änderte schließlich nichts an den Fakten.
Er war bedient.
Restlos bedient.
Da klingelte es abermals an der Tür.
„Was jetzt noch?“
Er öffnete, und da stand Blues, offenbar erst gerade von irgend einem Gig zurückgekehrt. Darauf hatte Shroud nun wirklich keine Lust mehr: eine Erörterung mit seinem neugierigen Nachbarn. Was Blues davon halten mochte, war ihm im Moment herzlich egal.
„Keine Zeit, Mann!“ sagte er deshalb kurz und warf die Tür zurück ins Schloss.

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Kapitel 4

Pinienrauschen.
Darauf lief es letztlich hinaus.
Verlässt man die City Of London und folgt dem Lauf der Themse ostwärts, gelangt man nach einer Weile nach Greenwich, und weiter in dieser Richtung liegt Woolich. Die Raglan Road verläuft parallel zur Plumstead Road, die den Stadtteil benennt, der von der City aus gesehen hinter Woolich liegt.
Hier, in der Raglan Road in Woolich, befand sich das Dojo von Itosu Azato.
Azato.
Träger des zehnten Dans.
Wie jeder Karateka hatte Shroud während seiner Ausbildung von Gichin Funakoshi gehört, hatte erfahren, dass Funakoshi sozusagen der Erfinder des modernen Karate war. In der Zeit nach dem zweiten Weltkrieg hatte der große Meister sein Können an viele wissbegierige Schüler weiter gegeben, unter anderem auf seinen Reisen in die USA, wo er auch und vor allem bei den Offizieren der Army hohes Ansehen genossen hatte.
Hier und später in Japan hatte auch Itosu Azato vom Können und von der Weisheit Funakoshis profitiert, war vom berühmten Gründer des Shotokan – Karate selbst ausgebildet worden. Azato war mittlerweile ein Greis im Alter von über achtzig Jahren, aber er betrieb noch immer ein Dojo, eine Karateschule.
Und an einem freundlichen Nachmittag stand Shroud vor dem Fenster dieses Dojos, fühlte sein Herz in seiner Brust klopfen und trat dann endlich ein.
„Meister Azato nimmt keine neuen Schüler mehr an“, sagte eine junge Schwarze, die im Vorraum, der eine Mischung aus Empfang und Büro darstellte, mit einem bedauernden Lächeln, „es tut mir Leid!“
Es klang beinahe wie einstudiert.
Shroud lächelte zurück. Anzunehmen, der Meister selbst würde sich seiner annehmen, wäre ziemlich vermessen, wenn auch verlockend gewesen. Die Gelegenheit jedoch, in einem Dojo zu trainieren, das von Azato geleitet wurde – diese Gelegenheit war eine Chance, die er nutzen wollte.
„Das habe ich nicht anders erwartet“, antwortete er der hübschen Schwarzen. „Ich möchte nur fragen, ob ein Training in diesem Dojo grundsätzlich möglich ist.“
Die Frau musterte ihn prüfend, dann nickte sie wissend.
„Sie sind kein Neuling im Karate“, sagte sie dann, „Schwarzer Gürtel?“
Shroud nickte und holte die entsprechende Bestätigung aus seiner Tasche, ein Dokument, dessen Wert sich für ihn schon oft ausgezahlt hatte.
„Vierter Dan“, sagte sie nach einem Blick auf den Ausweis, „erworben bei Meister Shaughnessy in Boston. Beeindruckend!“
„Sie kennen Sensei Shaughnessy?“
„Nicht persönlich, aber ich habe von ihm gehört. Er führt ein angesehenes Dojo.“
Die junge Frau war Shroud sehr sympathisch. Sie wusste offenbar, wovon sie sprach.
„Und Sie“, erwiderte er, „sitzen auch nicht hauptberuflich hinter diesem Schreibtisch.“
Sie lächelte wieder.
„Cora Irvin“, sagte sie und reichte ihm die Hand, „zweiter Dan. Sie können bei Sensei Yarolyn trainieren, wenn Sie möchten. Siebter Dan.“
„Burt Yarolyn?“
„Derselbe.“
„Ich dachte“, sagte Shroud erstaunt, „Meister Yarolyn lebt in Neuseeland.“
„Das hat er – bis vor einem Jahr.“
Shroud nickte. Dieses Dojo war wirklich hochklassig. Vielleicht war es genau das, was er brauchte.
Die Geschehnisse jener Nacht vor einigen Tagen hatten Shroud zutiefst erschüttert. Die plötzliche Konfrontation mit der Gewalt, die er aus seinem Leben verschwunden geglaubt hatte, brachte sein gesamtes Gleichgewicht durcheinander. Vor allem die Tatsache, dass er sich kaum hatte beherrschen können, machte ihm zu schaffen.
Die scheinbar unkontrollierbare Wut, das schiere Verlangen, dem Gegner jeden Knochen im Leib zu brechen, schien zu dieser Zeit nicht nur angemessen oder notwendig zu sein, nein, Shroud hatte fast eine Art perverser Lust dabei empfunden.
Schlimme Erinnerungen hatten ihn danach gequält. Es waren die Erinnerungen an seinen letzten Kampf gegen Float, den Leibwächter der Gebrüder Creighton. Auch bei diesem Kampf hatte er die Kontrolle verloren, hatte seinen Gegner – ohne Rücksicht auf eigene Verluste – förmlich zerschmettert. Ausgelöst wurde die Raserei wohl dadurch, dass er selber kurz vor der Niederlage gerstanden hatte. Float war der beste Kämpfer, dem er sich jemals hatte stellen müssen, und der Schmerz und die Qualen, die ihm von Float zugefügt worden waren, hatten dazu geführt, dass alle Sicherungen durchgebrannt waren.
Bei dem Schläger jedoch, dem Nachbarn, da war es ganz anders gewesen.
Kein Aufeinanderprallen, kein lang währender Kampf.
Kein Schmerz.
Keine Qualen.
Trotzdem hatte er sich fast nicht beherrschen können – und das war für ihn sehr verwirrend und erschreckend.
Die Erkenntnis, die Shroud daraus zog, lautete schlicht, dass er sich eben ganz und gar nicht in seelischer Balance befand, wie sehr er sich dies auch vorgemacht haben mochte.
Jetzt begann er langsam zu begreifen, dass gerade hierin sein Problem lag. Diese Balance, die manche auch Ausgeglichenheit nennen würden oder Seelenfrieden, dieses Gleichgewicht wiederzufinden, das war das Ziel. Nur über den Weg dahin war der junge Mann sich noch nicht klar gewesen.
Dann hatte er sich daran erinnert, dass er beim Surfen im Internet gelesen hatte, dass Itosu Azato in London ein Dojo führte. Und plötzlich schien alles klar – zumindest klarer.
„Ich würde sehr gerne hier trainieren.“
„Ich gebe Ihnen die Unterlagen. Ein Probetraining ist kostenlos.“
Cora Irvin gab ihm eine Anmeldung und einige Prospekte.
„Kann ich gleich jetzt anfangen?“
„Haben Sie alles dabei?“
„Ich denke schon.“
„Dann zeige ich Ihnen gerne alles.“
Das Dojo war aufgeteilt in zwei große Trainingsräume, jeder nicht weniger als hundertfünfzig Quadratmeter groß, einen für Anfänger und einen für Fortgeschrittene. Beide Räume atmeten asiatische Ruhe und Konzentration. Mit ihren holzvertäfelten Wänden, dem mit dicken Bastmatten belegten Parkettboden, der Kassettendecke aus Bambus und der klug im Raum verteilten indirekten Beleuchtung herrschte eine Atmosphäre, wie sie für ein Dojo besser nicht sein konnte.
Im Anfängerraum war sogar eine Holzpuppe mit dreh- und schwenkbaren Holzarmen aufgebaut, ein Gerät, das Shroud nur als Wu-Tang – Dummy kannte, obwohl es sicher auch einen japanischen Namen hatte. Er nahm sich vor, diesen irgendwann in Erfahrung zu bringen.
Unter der Leitung von fortgeschrittenen Schülern – sie trugen den ersten Kyu, einen Braunen Gürtel – trainierten hier zwei Gruppen von Kindern, die im Alter von acht bis zwölf Jahren sein mochten. Alle waren mit großem Eifer bei der Sache.
Wehmütig dachte Shroud an die Zeiten, als er in diesem Alter war und sich fast täglich im Dojo von Sensei Shaughnessy aufgehalten hatte. Hier hatte der glückliche Teil seiner Kindheit stattgefunden.
Cora Irvin führte ihn in den zweiten Trainingsraum, der ebenso geschmackvoll eingerichtet war wie der andere. Hier trainierten neben einer Gruppe von Fortgeschrittenen auch mehrere kleine Teams ihre Katas oder kämpften im Kumite. In einer Ecke pendeltenen zwei große Sandsäcke an schweren Kabeln träge an der Decke. In einem Bambusgerüst an einer Wand hingen verschiedene Schlaghandschuhe, so genannte Bratzen, Schlagpolster, aber auch eine Reihe von Bokutos, stumpfen Schwertern, wie sie im Iaido verwendet werden. Wie in vielen Dojos wurde auch hier nicht nur eine Kampfkunst gelehrt.
An einer Schmalseite des Raums befand sich noch ein kleines Podest mit einem Kissen aus Reisstroh darauf. Shroud war sich sicher: hier saß Meister Azato, wenn er dem Training beiwohnte.
Cora Irvin hatte seinen Blick auf die Empore sehr wohl registriert, da er aber keine diesbezügliche Frage stellte, führte die junge Frau ihn an die Tür der Herrenumkleide.
„Dort finden Sie auch die Duschen und Spinde. Wenn Sie möchten, können Sie sich jetzt umziehen. Ich glaube, Sensei Yarolyn kommt in Kürze. Sie werden sich mit ihm unterhalten wollen.“
Shroud bedankte sich bei der jungen Schwarzen und ging mit seiner Tasche in die Umkleide. Gegenüber einer Reihe mannshoher Spinde stand eine Bank mit darauf montierten Kleiderhaken. Er suchte einen freien Spind und stellte seine Tasche dort auf die Bank, dann öffnete er seine Jacke und wollte sie ausziehen. Dabei stieß seine Hand gegen das Schulterhalfter mit der Sig Sauer. Er hatte völlig vergessen, dass er immer eine Waffe mit sich führte.
Er warf einen Blick auf die Spindtür, sie war mit einem Schloss versehen. Er konnte die Waffe dem Schrank also getrost anvertrauen.
Trotzdem zögerte er.
Es war eine unbewusste Regung. Fast erschrak er, als er sich über sie klar wurde.
Er wollte sich nicht von der Waffe trennen. Ohne war er unsicher.
‚Mein Gott’, ‚dachte er, ‚wie weit ist es mit meinem Leben gekommen?’
Widerstrebend zog er dann doch das Halfter aus und legte es in den Spind. Ihm folgten die restlichen Kleidungsstücke sowie die Schuhe. Aus der Sporttasche nahm er seinen Gi. Den Kampfanzug aus dickem, grob gewebtem weißem Leinen hatte er schon ewig nicht mehr angehabt. Da er aber sein Gewicht gehalten hatte, passte der Anzug wie eh und je. Shroud griff in die Tasche und holte den langen Schwarzen Gürtel, auch aus Leinen, heraus und knotete ihn über der weiten Jacke zusammen. Schließlich zog er noch leichte Espandrillos über die Füße, Stoffschuhe mit einer geflochtenen Sohle. Dann verstaute er die Tasche im Spind und verschloss ihn sorgfältig. Den Schlüssel band er sich mit dem daran befindlichen Armband um das rechte Handgelenk. Dabei bemerkte er die Uhr, die er noch am linken trug – ärgerlich über seine Vergesslichkeit nahm er sie ab und warf sie in die Tasche im Spind, den er umständlich wieder aufschließen musste.
Endlich war er soweit.
Jetzt, da er den Gi trug, fühlte er langsam, wie die alte Freude ihn wieder zu durchströmen begann. Von dieser Freude fast erregt ging er in den Trainingsraum für Fortgeschrittene.
Während er sich warm machte und die Muskeln dehnte, sah er, wie manch einer der Schüler dort ihn mehr oder minder verstohlen musterte. Offenbar hatte sein Schwarzer Gürtel ihr Interesse geweckt, weil sie ihn noch nicht kannten.
Höflich verbeugte sich Shroud in Richtung der anderen, die die Verbeugung ebenso höflich erwiderten.
Dann begann er mit seinen Übungen.
Er machte sich warm und absolvierte einige Katas. Dabei fühlte er, wie sich Schweiß auf seiner Haut bildete. Es war ein gutes Gefühl.
Schließlich wandte er sich den Sandsäcken zu.
Schnelle Tritt- und Schlagkombinationen ließen einen der schweren, mit Sand gefüllten Ledersäcke heftig hin und her tanzen. Die Treffer saßen auch bei dem unruhigen Ziel stets sauber und präzise. Nach langen Minuten, in denen er sich ziemlich verausgabte, ließ er von dem Trainingsgerät ab und atmete tief durch, um wieder ausreichend Luft zu bekommen. Er fühlte sich angenehm erschöpft.
„Das war sehr gut!“
Eine sonore Stimme riss ihn aus seiner Konzentration. Shroud wandte sich um und sah einen Mann, der, anders als er und die anderen Karatekas, keinen Gi trug, sondern eine Kombination aus Haori und Hakama, einer Jacke und einem weiten Hosenrock. Beide Kleidungsstücke waren schwarz, deshalb fiel der schwarze Gürtel des Mannes auch kaum ins Auge.
Shroud verbeugte sich höflich.
„Sie sind Meister Yarolyn?“
Sein Gegenüber nickte nur.
Burt Yarolyn war deutlich kleiner als er selber, vielleicht einsfünfundsiebzig, dafür aber ungeheuer breit in den Schultern. Der Haori ließ mächtige Muskelbündel am Nacken erkennen, und Shroud  ahnte, dass der Körper des Senseis unter den weit geschnittenen Kleidern überall so aussah. Sein Gesicht war eher breit und flach, und unter den borstenartigen, strohblonden Haaren blickten ihn zwei wasserblaue Augen freundlich an. Eine breite, flache Nase und ein volllippiger Mund über einem Kinn mit einem tiefen Grübchen vervollständigten das Bild dieses Kämpfers, von dem Shroud schon so viel gehört hatte.
„Cora-san hat mir von Ihnen erzählt“, sagte Yarolyn, nachdem er sich von Shroud hatte mustern lassen, „und ich möchte Sie herzlich willkommen heißen in Sensei Azatos Dojo. Ich hoffe sehr, dass Sie sich für eine Mitgliedschaft in unserer Gemeinschaft entscheiden können.“
Shroud erwiderte das ansteckende Lächeln seines Gegenübers. Burt Yarolyn strahlte eine ungeheure Ruhe und Gelassenheit aus, dabei wirkte sein Körper wie eine mühsam im Zaum gehaltene Stahlfeder – es war dieser scheinbare Kontrast, der den Detektiv so faszinierte. Ganz deutlich spürte er, was ihn von diesem Meister unterschied. Auch sein Körper war in hohem Maße trainiert, aber sein Geist war weit mehr in Unruhe, als er sich das wünschen würde. Hier stand ein leuchtendes Beispiel dafür, wie es besser ging.
„Es wäre mir eine Ehre, Sensei Yarolyn“, antwortete er respektvoll.
Denn darauf lief es letztlich hinaus.
Shotokan.
Pinienrauschen.


Interludium: Malensteins Tagebuch

Jahr 22, Band III, 15. August.
Das Machtvakuum, das mit der Zerschlagung der Transpoplex aufgetreten ist, soll jetzt endlich geschlossen werden, bevor die verdammten Asiaten sich noch ein größeres Stück vom Kuchen einverleiben können. Ein neuer Mann kommt nach London, ein „Fixstern am Firmament des Verbrechens“, wie McB spöttisch sagte. Meinte er es wirklich spöttisch? Ich bin mir nicht sicher. McB ist zwar allgemein anerkannt der „Capo di tutti capi“, aber er wird alt. Alt und zu selbstsicher. Wir aber leben in unsicheren Zeiten. Jedenfalls hoffe ich, dass Cavanaugh, der von jetzt an BigC heißen wird, die Organisation so stark machen wird, wie sie es vor Creightons Abgang einmal war. Die neue Struktur mit den Vermittlern wird sich dabei als hilfreich erweisen, so hoffe ich.
Und Creighton: ich habe diesen Psychopathen nie gemocht, aber McB hat ihn für etwas ganz besonderes gehalten. Nun, das ist jetzt endgültig vorbei.
Randbemerkung: Der Privatdetektiv, der Creighton fertig gemacht hat, ist wieder in der Stadt. Wenn er klug ist, hält er sich künftig aus unseren Geschäften heraus. Ich bin da allerdings skeptisch. Jedenfalls werde ich ihn unter Beobachtung halten. Ende des Eintrags.

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Kapitel fünf

„Boroyokudan!“
In den Wochen, die Shroud jetzt schon Mitglied der Gemeinschaft im Dojo Azatos war, hatte er Burt Yarolyn stets konzentriert, engagiert, manchmal sogar eifrig erlebt.
Niemals jedoch hatte er ihn wütend gesehen.
Lag es an dem Neuankömmling, der Shroud aufgefallen war, weil er auch im London der ungezählten Völker aufsehenerregend war? Der Japaner – Shroud hielt ihn für einen Angehörigen dieses Volkes – war mit einem Meter achtzig ungewöhnlich groß gewachsen, er war schlank und sehnig und bewegte sich stets fließend, es wirkte, als glitte er mehr dahin als dass er ginge. Das ernste Gesicht wurde beherrscht von zwei kleinen, schwarzen Augen und dem sehr schmallippigen Mund über dem kleinen, von einem Grübchen gespaltenen Kinn. Die kurz geschnittenen Haare waren schwarz wie die der meisten Asiaten.
Ungewöhnlich war neben seinem Aussehen auch sein Gebaren, das höflich, fast ehrfürchtig war gegenüber Meister Azato und freundlich distanziert gegenüber Sensei Yarolyn, jedoch herrisch und unterschwellig aggressiv gegenüber allen anderen. Auch sein Gi war einzigartig, denn der Kampfanzug bestand nicht aus Leinen, sondern aus weißer Seide. Um in ihm einen Meister der Kampfkunst zu erkennen, hätte Shroud nicht den Schwarzen Gürtel um die schmalen Hüften des Mannes zu sehen brauchen.
Und Meister Itosu Azato, der mit seinen über achtzig Jahren immer noch täglich für mehrere Stunden dem Training beiwohnte, der sich gerne selber der Anfänger annahm und durch seine heitere, unbeschwerte Art viel Freude verbreitete, der oft und gerne mit den jungen Menschen scherzte und lachte, Sensei Azato saß mit mürrischem Gesichtsausdruck auf seinem Kissen im Trainingsraum der Fortgeschrittenen und blickte ins Leere.
Der merkwürdige Asiate, der vor kurzem das Dojo betreten hatte, hatte den greisen Meister voller Ehrerbietung begrüßt, war von Azato jedoch ignoriert worden. Das hatte Shroud bei dem alten Karatelehrer noch nie erlebt, der immer und für jeden ein freundliches Lächeln übrig hatte.
„Karate beginnt mit Höflichkeit und endet mit Höflichkeit“, wurde er nicht müde, einen berühmten Ausspruch Funakoshis zu zitieren, und er legte äußersten Wert auf die Regeln des Reishiki.
„Kannst du bitte die Kata meiner Gruppe überwachen, Shroud–san?“
„Hai, Burt–san!“
Es war schon öfter vorgekommen, dass Yarolyn ihn gebeten hatte, ihm bei der Ausbildung von einzelnen Schülern oder kleinen Gruppen zu helfen, aber diesmal vibrierte die Stimme des Danträgers förmlich von Zorn. Und dann der japanische Ausdruck, den Yarolyn gebraucht hatte, als er an Shroud vorbei auf Sensei Azato zugegangen war.
Boroyokudan.
Neben einigen Floskeln wie der ehrenvollen Anrede mit dem Zusatz „San“ etwa wurde im Dojo kein Japanisch gesprochen, lediglich Burt Yarolyn und Itosu Azato unterhielten sich gelegentlich in dieser Sprache. Shroud kannte die aus dem Umfeld des Karate gebräuchlichen Begriffe, aber Japanisch sprach er nicht. Yarolyn jedoch hatte einige Jahre dort gelebt.
Shroud beschloss, sich auf die Leitung der Übung zu konzentrieren und schob die Gedanken an die merkwürdigen Ereignisse beiseite. Die Gruppe, mit der Yarolyn trainiert hatte, war im Begriff, eine der ersten Katas zu wiederholen, die sogenannte Heian Nidan. Der Träger des vierten Dans stellte sich vor der Gruppe auf und eröffnete die Übung mit dem traditionellen Ausruf.
„Yoi!“
Eine Kata – eine festgelegte Reihenfolge bestimmter Bewegungen aus Angriffs- und Verteidigungstechniken – wird vom Schüler viele Male trainiert, bis er sie vollständig beherrscht. In der Gruppe wirkt eine Kata dann wie eine Art harmonisches Ballett. Sie ist neben den Kampfübungen das wesentliche Element bei der Erlernung der Kampfkunst.
„Yame!“
Auf diese Weise wurde die Übung beendet, und Shroud war mit den Fortschritten der Schüler sehr zufrieden.
„Das war sehr gut!“ lobte er die Gruppe deswegen auch.
Damit war das Training für die Karatekas für diesen Tag zu Ende, und Shroud überlegte kurz, was er nun tun sollte. Da hörte er, wie jemand einen der Sandsäcke bearbeitete, und drehte sich um.
Es war der Asiate, der mit unglaublicher Geschwindigkeit Tritt um Tritt, Hieb auf Schlag auf der dicken Lederoberfläche landete und den Sack so in heftige Schwing- und Pendelbewegungen versetzte. Minutenlang drosch er auf das Trainingsgerät ein und zeigte eine Technik, die Shroud nur exzellent finden konnte.
Erstaunlicher als das aber war die Tatsache, dass sowohl Meister Azato als auch Burt Yarolyn, die sich leise unterhielten, den Vorgang vollständig ignorierten. Das war deshalb bemerkenswert, weil sie sonst immer die Arbeit ihrer Schüler kritisch begutachteten und viele Anregungen und Vorschläge zu machen hatten, die die Technik des Nachwuches verbessern halfen.
Wer war der Kerl, der diese ungewohnte Haltung in den Leitern des Dojos weckte?
Shroud war begierig, eine Antwort auf diese Frage zu bekommen, denn er fühlte den Frieden, den er hier in den letzten Wochen gefunden hatte, seine Freude an der Gemeinschaft, von diesem Mann gefährdet.
Der Große hatte inzwischen seine Übung am Sandsack beendet und wischte sich den Schweiß mit einem kleinen Handtuch vom Gesicht. Darüber hinaus war ihm nicht anzusehen, dass er gerade einige Minuten lang schwer gearbeitet hatte, sein Atem ging scheinbar völlig normal.
In diesem Moment betrat Cora Irvin den Trainingsraum, auch sie in ihren Gi gekleidet. Shroud wusste, dass sie heute in den Abendstunden wieder vorne den Empfang hüten würde und deshalb ihr Training jetzt absolvieren wollte. Als sie den Fremden sah, blieb sie so abrupt stehen, als sei sie vor ein unsichtbares Hindernis geprallt. Auch der Japaner hatte sie bemerkt und grinste anzüglich zu ihr herüber. Sie wandte sich mit verschlossenem Gesicht von ihm ab und ging in die entgegengesetzte Ecke des Trainingsraums.
Auch diese Reaktion überraschte Shroud zutiefst.
Gerade Cora, die sich immer an das Reishiki hielt – strenge Regeln über Höflichkeit und Pünktlichkeit im Dojo – hatte er noch nie so abweisend gesehen.
Wer war der Kerl?
Shroud beschloss, der Sache auf den Grund zu gehen.
Deshalb ging er hinüber zu der jungen Schwarzen, die in ihrem strahlend weißen Gi überaus attraktiv aussah. Nur ihr verärgertes Gesicht passte nicht zu ihrer hübschen Erscheinung.
„Cora–san“, sprach Shroud sie an, und sie drehte sich zu ihm um. Als sie ihn erkannte, hellte sich ihr Gesicht etwas auf, und sie schenkte ihm sogar ein kleines Lächeln.
„Shroud–san“, antwortete sie, „wie kann ich dir helfen?“
„Du kannst mir sagen, was das für ein Kerl ist.“
Sofort verdüsterte sich ihre Miene wieder.
„Es tut mir leid“, sagte Shroud, als er ihre Reaktion sah, „ich wollte dir nicht zu nahe treten. Ich wundere mich nur, warum der Mann dort bei allen unbeliebt zu sein scheint und trotzdem hier trainiert.“
„Du kannst das auch nicht wissen“, antwortete Cora, „das war vor deiner Zeit. Gott!“ rief sie aus, „ich wünschte, ich würde ihn nie wieder sehen!“
„Hm“, machte Shroud nur.
Cora Irvin atmete hörbar ein und aus.
„Sein Name“, sagte sie dann mit leiser, gepresst klingender Stimme, „ist Shiro Ryusaki.“
Shroud hörte nur zu. Cora brauchte eine Weile, ehe sie weiter sprechen konnte.
„Er kam vor sechs Jahren in unser Dojo und hat von Anfang an für Unfrieden gesorgt. Er behandelt die anderen Schüler schlecht, lässt sie nicht an seinem Wissen teilhaben, er hat sogar schon einmal einen leitenden Schüler zusammengeschlagen, weil der ihn zur Rede gestellt hat.“
Wieder machte sie eine Pause.
„Dann, vor einem halben Jahr, kam er plötzlich nicht mehr, und Meister Yarolyn hat erfahren, dass Ryusaki nach Japan zurück gekehrt sei. Oh“, machte sie, „ich habe so gehofft, dass er dort bleiben würde!“
„Warum“, fragte Shroud erstaunt, „hat Sensei Azato ihm nicht verboten, in dieses Dojo zu kommen? Ich verstehe nicht, wieso ein so grober Kerl hier geduldet wird.“
„Er muss geduldet werden“, erwiderte Cora mit bitterer Stimme.
„Aber wieso?“
Abermals atmete sie geräuschvoll.
„Shiro Ryusaki“, sagte sie dann schleppend, „ist Mitglied der Yakuza.“
Shroud fühlte, wie sein Innerstes sich zusammenzog. Plötzlich erwachte die Vergangenheit wieder in ihm, denn er hatte mit Leuten vom Schlag dieses Ryusaki bereits zu tun bekommen.
Der Mob.
Das organisierte Verbrechen.
Die Yakuza hatte sich vor Jahrhunderten in Japan entwickelt und sich mit der Öffnung des Landes nach Westen über die Grenzen Nippons ausgebreitet. Durch die intensiven Beziehungen des Vereinten Königreichs mit Japan hatte sie sich auch in Großbritannien festgesetzt.
Ob es nun die Mafia war, die Cosa Nostra, die chinesischen Triaden oder die Yakuza: alle hatten gewisse Merkmale gemeinsam. Hierarchischer Aufbau, Abschottung nach außen, konspiratives und arbeitsteiliges Vorgehen, das Prinzip des Schweigens und die Strategie der Angst – das war der Mob!
Und dieser Shiro Ryusaki gehörte also dazu!
War er ein Anführer?
Shroud war mit den Feinheiten der Yakuza nicht vertraut, er wusste nicht, ob der Japaner vom Alter her schon Oyabun sein konnte. Wahrscheinlich war er einer der Handlanger eines Führers, einer der Schläger, die man allgemein nur Racketeers nannte.
Plötzlich verstand Shroud die Erregung, die Ryusakis Erscheinen im Dojo auslöste und die Ablehnung, die ihm allenthalben entgegengebracht wurde. Mit vielem hatte er gerechnet, nur nicht damit, dass er hier, an diesem Hort der Kontemplation und Ertüchtigung, mit dem Mob konfrontiert werden würde.
Cora Irvin bemerkte, wie es in ihrem Kollegen arbeitete, und da sie nicht viel über seine Vergangenheit wusste – sie hatte die umfangreiche Berichterstattung in der Presse zwar oberflächlich verfolgt, aber nie ihn damit in Zusammenhang gebracht – war sie verwirrt.
„Danke“, sagte Shroud schließlich, „Cora–san.“
Damit wandte er sich um und ging in Richtung der Umkleide. Er legte den Gi ab, verstaute ihn in seiner Tasche, die er aus dem Spind geholt hatte und begann sich anzuziehen. Schließlich holte er den Gürtelhalfter, das er dem unbequemen Schulterhalfter vorgezogen hatte, mit der Neun Millimeter heraus und hängte ihn mit dem Clip an seinen Hosenbund. In diesem Moment kam Shiro Ryusaki aus der Dusche, nur mit einem kleinen Handtuch um die Hüften bekleidet, das schwarze Haar feucht glänzend. Knotige Muskelstränge zeugten von der großen Kraft dieses Mannes. Anders als es die Geschichten über die Yakuza vermuten ließen, hatte Ryusaki nicht eine einzige Tätowierung auf dem makellosen Körper.
Der Japaner sah natürlich sofort die Schusswaffe am Gürtel seines Gegenübers. Sein Gesicht verzog sich zu einem hämischen Grinsen.
Shroud erwiderte den Blick mit versteinerter Miene.
Ryusaki trat näher auf ihn zu.
„Ich habe gehört“, sagte er mit leiser Stimme, „wie sehr du dich hier eingeschleimt hast.“
Shroud fühlte, wie sein Magen zu einem Eisklotz wurde. Er sah sein Gegenüber trotzig an, wobei er sich nur mühsam beherrschen konnte.
„Hast du ein Problem damit?“ fragte er mit gepresster Stimme.
„Vielleicht bist du es“, erwiderte der Japaner, „der das Problem hat.“
„Vielleicht.“
Damit griff der Detektiv nach seiner Jacke, nahm seine Tasche und verließ, ohne den Yakuza eines weiteren Blickes zu würdigen, den Raum.
Im Vorraum des Dojos stand Burt Yarolyn und sortierte irgendwelche Papiere.
Er sah kurz auf.
„Du gehst schon, Shroud–san?“
Shroud nickte ihm nur kurz zu.
„Hast du“, spach Yarolyn ihn erneut an, „mit Ryusaki gesprochen?“
Der Detektiv blieb stehen und wandte sich dem Sensei zu. Dann nickte er.
„Du solltest ihm aus dem Weg gehen“, riet Yarolyn, „der Kerl sucht Streit, und er ist extrem gefährlich.“
Shroud nickte wieder, diesmal nachdrücklich.
„Das kann ich mir denken“, sagte er dann. „Ich hatte schon mit dieser Art Leute zu tun.“
Burt Yarolyn runzelte die Stirn, aber Shroud winkte ab.
„Lange Geschichte.“
„Verstehe.“
Einer plötzlichen Eingebung folgend ging Shroud die paar Schritte zu der Theke, hinter der sein Lehrer stand.
„Was bedeutet das Wort“, begann er, „mit dem du den Kerl gemeint hast?“
„Welches Wort, Shroud–san?“
„Ich kann mich nicht genau erinnern, es klang wie  ‚Borokudan’ oder so ähnlich.“
„Ach das.“
Yarolyn wandte sich wieder den Papieren zu.
„Burt–san?“
Nach einigen Augenblicken sah der Sensei auf, blickte Shroud ins Gesicht.
„Boroyokudan“, sagte er schließlich, „das bedeutet soviel wie ‚nichtsnutziges Pack’.“
„Boroyokudan“, wiederholte Shroud und wandte sich zur Tür.
„Das muss ich mir merken!“
Damit verließ er das Dojo.
Nach diesem Tag, der so ganz anders verlaufen war, als er sich das vorgestellt hatte, wollte Shroud nicht einfach nach Hause fahren. Nachdem seine gute Stimmung, sein innerer Frieden praktisch wie fortgewischt waren, hatte er das Bedürfnis, sich noch mit einem besonderen Essen zu belohnen.
Deshalb steuerte er den Peugeot zu Albert’s Market.
Im London der unbegrenzten Möglichkeiten hatte Albert noch vergleichsweise überschaubare Geschäftszeiten: Montag bis Freitag von 09:00 Uhr morgens bis 06:00 Uhr abends, Samstags bis 02:00 Uhr mittags. Sein Geschäft ging ganz gut, dennoch hatte er nur eine Verkäuferin – die meiste Zeit standen er und seine Frau hinter dem Ladentisch. Das taten sie nicht aus falsch verstandener Sparsamkeit – nein, die nicht mehr jungen Leute liebten es, die feinen Speisen und Getränke zu verkaufen, ihre Kunden über Vorzüge dieser Spezialität und Vortrefflichkeiten jenes Schmauses zu beraten. Damit kamen sie noch ganz gut zurecht, und die Premiumpreise Ihres Marktes wurden zwar von ihrer Käuferschaft willig bezahlt – die Anzahl der Konsumenten mit entsprechendem Geldbeutel war aber auch nicht so groß.
Um kurz nach halb sechs fand Shroud einen Parkplatz unweit von Albert’s Market. Er hatte während der Fahrt überlegt, was er sich kaufen wollte. Auf jeden Fall würde er einige Flaschen seines Lieblingsbieres mitnehmen, Kilian’s Red Ale. Vielleicht schmeckte ein gutes Steak mit einer schönen Portion frischer Waldpilze mit italienischen Nudeln und einer würzigen Sauce dazu am besten.
Vielleicht aber auch etwas Kurzgebratenes aus dem Wok, dazu thailändischer Duftreis und scharf eingelegter Ingwer.
Bei dem Gedanken an die Leckereien lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Voller Vorfreude betrat er den Laden.
Zuerst fiel ihm auf, dass die Theke am Kopfende des Geschäftes nicht besetzt war. Das war sehr ungewöhnlich, denn Albert oder seine Frau ließen den Laden eigentlich niemals unbeaufsichtigt. Shroud trat näher an die Theke heran. Dann sah er, dass die Registrierkasse offen stand. Außer ein paar Pennymünzen war kein Geld mehr darin.
Unmittelbar spürte er die Atmosphäre der Gefahr, die die Luft zum Knistern zu bringen schien. Instinktiv duckte er sich ein wenig, und die Sig Sauer glitt aus dem Halfter in seine Hand. Er öffnete seine Sinne – und da: war da nicht ein leiser Schrei durch die Tür zu den hinteren Räumen zu hören gewesen?
Langsam schritt der Detektiv mit vorgehaltener Schusswaffe auf die Tür zu, die nur angelehnt war.
Und dann...

*

Vorsichtig stieß ich die Tür auf, nachdem ich den Sicherungshebel der Sig umgelegt hatte. Die Waffe war gewohnheitsmäßig durchgeladen und somit feuerbereit. Alles deutete auf ein Verbrechen hin, und dieses Verbrechen schien immer noch im Gange zu sein.
Ich konnte nicht verstehen, warum es Menschen gab, die solch liebenswürdigen alten Leuten etwas antun konnten. Albert und seine Frau Emma waren, wie man so sagt, wahre Seelen von Mensch, immer freundlich, engagiert und zuvorkommend. Ich hoffte, dass ihnen nichts Schlimmes geschehen war.
Hinter der Tür befand sich ein schmaler Gang, von dem gesehen links sich ein Bad und eine Küche und rechts zwei kleine Zimmer befanden. Ich öffnete vorsichtig jede dieser Türen, aber niemand hielt sich dort auf.
Dann hörte ich den nächsten Schrei.
Es war ein Schmerzensschrei.
Er war sehr hell und klang eher wie der eines Kindes als der eines Erwachsenen. Dabei fiel mir ein, dass Albert zwei überaus niedliche Enkelkinder hatte, einen Jungen und ein Mädchen, kaum älter als vier oder fünf Jahre, die sich öfter im Laden aufhielten. Ich hatte sie dort schon einige Male ausgelassen spielen gesehen. Jetzt erinnerte ich mich auch daran, dass hinter dem Haus ein Garten sein musste. Alberts Frau hatte die Kinder einmal dort hinaus geschickt, weil sie doch zu sehr getobt hatten.
Es war der Garten, aus dem die Schmerzlaute kamen.
Wenn irgendwer dort die Kinder quälte...
Ich spürte, wie Wut in mir hochstieg wie eine Fontäne glühender Lava.
Am Ende des Flures lag ein Wohnzimmer, und von dort führte eine Tür auf eine Terasse und in den Garten. Auch diese Tür war nur angelehnt.
Ich duckte mich in den Schatten des Flures und spähte angestrengt nach draußen. Ja, dort standen Albert und Emma, einander ängstlich umklammernd. Rechts und links von ihnen standen zwei grobschlächtige, breitschultrige Kerle und hielten sie fest. Diese vier versperrten mir die Sicht auf die Szene dahinter.
Dann hörte ich das klatschende Geräusch eines Schlages und das schmerzhafte Wimmern und Weinen eines Kindes. Einer der Kerle lachte roh.
„Habt ihr endlich kapiert, dass ihr pünktlich zu zahlen habt?“
Die Stimme des Mannes, der von mir aus gesehen hinter dem Quartett stand, war dunkel und gefühlskalt.
„Oder muss ich dem Engelchen hier erst ein paar neue Gesichtszüge einritzen?“
Er klang, als kaufte er am Kiosk eine Tageszeitung.
„Nein!“ stöhnte Albert.
Emma begann zu schluchzen.
Es reichte.
Da mir die Schläger, die das alte Ehepaar festhielten, den Rücken zuwendeten und mich so noch vor dem anderen Kerl verbargen, lief ich schnell durch das Wohnzimmer, zog die Terassentür auf und war mit zwei Sprüngen hinter ihnen.
Sie konnten nicht mit meinem Erscheinen gerechnet haben, dennoch reagierten sie schnell.
Es waren eben Profis.
Ich verabscheute sie.
Sie waren wirklich schnell, aber ich war schneller. Dem, der rechts von mir stand und der Albert gepackt hatte, knallte ich den Lauf der Sig an den Hinterkopf. Dem anderen schlug ich mit dem Handrücken der Linken fest auf das rechte Ohr.
Haiken – Uchi.
Der erste schlug lang hin, der zweite schrie gellend und ging in die Knie.
Dann sah ich den dritten Mann.
Er hatte den Jungen gepackt und am Kragen des Hemdes hoch gehoben. In der anderen Hand hielt er ein Messer mit Sprungklinge und fuchtelte damit herum. Zu seinen Füßen lag Alberts Enkelin mit blutender Nase und weinte Herz zerreißend.
Ich hob die Waffe und zielte auf die Brust des Mannes. Gleichzeitig zog ich den Hahn der Sig klickend zurück. Der Abzug rückte einige Millimeter nach hinten – es bedurfte nur eines kleinen Drucks mit dem Zeigefinger, und das Geschoss vom Kaliber 38 würde losgehen.
„Lass das Kind los!“
Ich stand schräg hinter den anderen Kerlen, die langsam wieder auf die Beine kamen. Das war gefährlich, denn ich konnte nicht alle drei auf einmal kontrollieren.
So sah es wohl auch der Schläger mit dem Messer und begann schief zu grinsen.
Ich schoss.
Ein scharfer Knall, die Kugel traf ihn in die rechte Schulter. Die Wucht des Treffers war so groß, dass er nach hinten von den Füßen gerissen wurde und im Blumenbeet landete. Das Stilett flog in hohem Bogen durch die Luft. Der Junge fiel zu Boden.
Sofort richtete ich meine Waffe auf die beiden anderen Mistkerle. Der eine hob sofort die Arme in die Höhe, der andere, den ich am Ohr erwischt hatte, wankte zwei Schritte zurück und presste seine Hände auf die schmerzende Stelle.
Albert und seine Frau waren wie versteinert. Ich hoffte, keiner von beiden hatte ein krankes Herz. Emma war kreideweiß im Gesicht. Alberts Hände zitterten.
Ohne die Waffe zu senken hob ich beschwichtigend die Linke und winkte den beiden beruhigend zu.
„Es ist alles in Ordnung“, sagte ich mit möglichst freundlicher Stimme.
„Sie kennen mich. Ich bin Mister Shroud, ihr Kunde. Ich habe schon oft bei Ihnen eingekauft.“
In Alberts Augen konnte ich sehen, dass er zu verstehen begann.
„Mister Shroud“, wiederholte er leise, mit bebender Stimme.
„Richtig!“
Ich überlegte kurz, aber der Nachname des Ehepaares wollte mir nicht einfallen. Egal.
„Albert“, sagte ich zu den älteren Herrschaften, „Emma!“
Beide sahen mich mit großen Augen an, in denen ich jetzt wieder die Angst lesen konnte. Klar, ich stand vor ihnen mit der Waffe im Anschlag. Der beißende Geruch des Pulvers hing noch in der Luft des frischen Abends.
„Albert. Emma. Gehen Sie von den beiden Männern weg!“
Sie schienen nicht zu begreifen.
„Gehen Sie bitte weg von den Männern!“
Endlich kamen sie meiner Aufforderung nach.
Da hatten auch die Kinder ihren Schock überwunden. Weinend liefen sie auf ihre Großeltern zu und schlangen ihre kleinen Ärmchen um sie.
„Bringen Sie die Kinder hinein!“
Sie setzten sich in Bewegung, gingen oder besser: torkelten in Richtung Terrassentür.
„Und holen Sie die Polizei!“ rief ich ihnen nach.
Ich warf einen kurzen Blick auf den Angeschossenen. Er lag immer noch in den Tagetes, diesen schmutzig gelben, übel riechenden Blumen. Er heulte leise.
„Weißt du, was du da tust?“
Der Kerl, der immer noch seine Hände erhoben hatte, schien langsam wieder Oberwasser zu bekommen.
„Weißt du, wem du hier ans Bein pisst?“
Ich machte zwei Schritte auf ihn zu.
Der andere ließ endlich sein Ohr los und stierte mich an. In seinen kleinen Schweinsäuglein blitzte die Wut. Ich richtete die Neun Millimeter auf seinen Kollegen und trat ihm aus der Wucht meiner Schritte mit gestreckter Ferse vor die Brust.
Mae – Giri – Ke – Komi.
Der Treffer verursachte ein schmatzendes Geräusch, der Kerl hatte eine ganz hübsche Fettschicht auf dem Leib. Er flog einen knappen Meter zurück und krachte gleich neben dem Liegestuhl auf den Terassenboden. Dabei stieß er nur ein Grunzen aus.
Der andere fühlt gleichzeitig den Lauf der Sig genau auf seiner Stirn.
„He!“
„Was meinst du, Abschaum?“
Ich fühlte, wie ein Geysir des Zorns durch meinen Körper raste, bis hinein in die Finger meiner rechten Faust, die den Griff der Waffe umschloss.
Nur ein kleiner Ruck, dann würde eine Kugel dem elenden Schläger den Schädel wegblasen.
Sehr verlockend.
„Nun?“
„Beruhig’ dich, Mann!“
Seine Stimme war nun nicht mehr selbstsicher. Ich konnte seine Furcht gleichsam riechen.
„Ruhig!“
„Mieser Abschaum!“
Damit rammte ich ihm mein Knie zwischen die Beine, und stöhnend sackte er zusammen.
Ich atmete stoßweise, zielte mit der Waffe einmal hierhin, dann dorthin.
Ich wollte die Dreckskerle abknallen.
Gleich hier.
Jetzt!
Erst als ich die Sirenen der Polizeiwagen hörte, fand ich wieder zu mir. Es war, als ob ein Schleier der Wut vor meinen Augen zerriss.
Ich trat einige Schritte zurück.
Alle drei Kerle waren außer Gefecht. Ich konnte bedenkenlos die Waffe einstecken.
Da lagen sie, teils regungslos, teils sich vor Schmerzen windend.
Diesmal hatten sie einstecken müssen, was sie normalerweise austeilten.
Ich spuckte aus, so widerwärtig waren mir die Kerle.
„Boroyokudan!“ sagte ich verächtlich.
Nutzloses Gesindel.
„Boroyokudan!“

 

Ende des Auszugs

 


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