Shoud - Die Narrenouvertüre

TEASER

Dort, im milchigen Dunkel, kaum erleuchtet von den nahen Lichtern der Großstadt, sah ich das Ende des Steges, dahinter die schwarz und unheimlich glänzenden Fluten der Themse – dennoch: meine Rettung!
Von den Männern hinter mir hörte ich nur einen lauten Fluch. Ich konzentrierte mich auf das schwarze, undurchdringlich erscheinende Wasser. Zu jeder anderen Zeit würde ich mich davor ekeln, in die kalte und wahrscheinlich ziemlich verschmutzte Themse zu springen, aber im Moment erschienen mir die träge dahin gleitenden Wellen wie ein Versprechen der Sicherheit.
Nur noch wenige Schritte. Immer noch entsetzt vom Anblick der Pistole in der Hand eines der Schläger konnte meine Reaktion nur die Flucht sein. Die Angreifer, acht an der Zahl, und ich hatten Beleidigungen ausgetauscht, dann Handgreiflichkeiten. Drei von den Männern hatte ich zu Boden schlagen können. Dann hatte ein weiterer seinen Revolver gezogen.
Nein!
Kein Fiasko mehr wie bei der Entführung des Jungen! Blitzlichtartig kamen mir die grausamen Bilder in den Sinn. Die erste Schießerei... ich wollte das nicht mehr, um keinen Preis!
Ich rannte buchstäblich um mein Leben.
Dort, das Ende des Steges. Dann ein weiter, verzweifelter Sprung …
Da traf es mich mit brutaler Gewalt in den Rücken, riss mich in der Luft vornüber, so dass das Wasser plötzlich genau unter mir lag und ich dennoch darüber hinwegsauste. Den Schuss – dass es ein Schuss war, war mir in diesem Moment völlig klar – hatte ich nicht gehört, aber ich wusste, ich war getroffen. Schwer getroffen.
Völlig unkrontrolliert wirbelte ich dem Wasser entgegen. Komisch, es tat noch nicht einmal weh …
Dann, nach scheinbar endlosen Augenblicken, durchschlug ich wuchtig die Wasseroberfläche wie einen geschwärzten, unheimlichen Spiegel, und die Kälte der Flut löste die Kühle der Nacht ab. Jetzt fühlte ich einen scharfen, stechenden Schmerz in meiner Brust, Schwärze umgab mich, und Dunkelheit stieg auch in mir auf …
Vorbei, dachte ich noch …
Vorbei!

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KAPITEL EINS

Der Mann im Halbschatten roch den Duft der blonden Frau, die gerade an ihm vorbei gegangen war. Es musste sich um ein exquisites Parfum handeln, es lag blumig und leicht süßlich in der Luft, ohne aufdringlich zu wirken. Der Mann beugte sich etwas vor und blickte der Frau hinterher. Sie war jung und attraktiv, trug ein enges Kostüm, dessen Rock und Oberteil dunkelblau waren mit schmalen cremefarbenen Streifen an den Seiten und die die weiblichen Rundungen sehr schön zur Geltung brachten. Die Frau trug dazu dunkelgraue Strümpfe und hochhackige schwarze Schuhe. Das tizianblonde Haar schwang offen bis über ihre Schultern.
Der Mann blickte durch den Sucher der Kamera, änderte die Brennweite und drückte den Auslöser. Es klickte vernehmlich, und der Film in der Spiegelreflexkamera wurde mit einem leisen Surren um ein Bild weiter transportiert.
Der Beobachter ließ die Kamera sinken und blickte sich aufmerksam um: niemand hatte ihn in dem Hausflur bemerkt, wie es schien. Dann zog er sich wieder zurück in den Halbschatten.
Der Mann lehnte sich mit seinen knapp einsneunzig an die Haustür und fuhr sich mit der Hand durch das dichte, leicht wellige, kastanienbraune Haar. Er war glatt rasiert und nicht älter als Ende zwanzig. In der in die Tür eingelassenen Glasscheibe spiegelten sich seine graugrünen Augen und der schmallippige Mund.
Die Lizenz war nicht genug.
Das hatte Shroud lernen müssen, als er wochenlang in seiner Wohnung saß und auf den ersten Klienten wartete.
Am Anfang einer selbständigen Tätigkeit standen Investitionen, das war ihm klar. Neben der Waffe und der Lizenz hatte er sich verschiedene Geräte angeschafft, die er zu brauchen meinte. Vor allem waren das ein PC und ein Fotoapparat. Shroud vertraute noch auf ein klassisches Modell mit Film, die brandneuen Digitalkameras schienen ihm nicht ausgereift. Er entschied sich für eine Spiegelreflexkamera mit verschiedenen Objektiven.
Der PC mit Windows-Betriebssystem brachte ihn bei der Installation der notwendigen Programme und der peripheren Hardware mehr als einmal zur Verzweiflung. Ein eigener Internetanschluss kostete ihn ebenfalls ein kleines Vermögen, aber auch den meinte er zu brauchen.
Doch alle diese Investitionen brachten ihm noch keine Klienten. Er überlegte, was noch zu tun sei – das führte ihn zu einer erneuten, nicht zu kleinen Ausgabe: einem Inserat in den gängigen und einschlägigen Printmedien sowie im Internet.
In der Zwischenzeit beschloss er, dass ein wenig Übung nicht schaden konnte. So zog er los, mit dem Fotoapparat bewaffnet, und ging in die von unzähligen Touristen durchströmten Bereiche der City. Manchmal suchte er sich einen bestimmten Menschen aus, dem er dann stundenlang folgte, möglichst ohne sich von ihm entdecken zu lassen, und machte einige Fotos, um sich mit der Optik des Apparats vertraut zu machen. An anderen Tagen erkundete er die Außenbezirke der Weltstadt und fuhr kreuz und quer mit Bussen und der Underground.
London erlag täglich dem Verkehrskollaps, die historische Anlage der City entsprach einfach nicht dem Aufkommen der Fahrzeuge. Trotzdem quälten sich jeden Tag tausende und abertausende Autos durch die teilweise sehr engen Straßen, und gelegentlich gesellte sich Shroud zu ihnen, indem er ein Taxi nahm.
Abends verbrachte er öfter Zeit bei Blues, einem seiner Nachbarn, oder er spazierte durch die City, besuchte den einen oder anderen Pub.
Und dann, an einem Nachmittag, Shroud hatte wieder einige Stunden in der City verbracht, die er mittlerweile sehr gut kannte, leuchtete die LED seines Anrufbeantworters – der erste Klient.

 

*

 

„Ich habe den Verdacht, dass dieser Mitarbeiter uns bestiehlt und die Medikamente dann auf dem schwarzen Markt verkauft.“
Der Mann saß kerzengerade auf dem Stuhl, den Shroud ihm angeboten hatte. Sein Anzug war aus Flanell und sah sehr unbequem aus. Auf dem Kragen des dunkelblauen Stoffs sah man vereinzelte Schuppen, die aus den schütteren Haaren gefallen waren. Neben dem Mann stand eine schwarze schweinslederne Aktentasche, aus der er einen Stapel Dokumente gezogen hatte.
Shroud versuchte, sich ein Bild von dem Menschen ihm gegenüber zu machen. Dieser gab sich als Vertreter des Business, aber viele Details an ihm sprachen dafür, dass der Mann kein typischer Vertreter des Managements war, er wirkte eher wie ein Wissenschaftler, der notgedrungen auch administrative Tätigkeiten ausübte.
„Worauf gründen Sie Ihren Verdacht, Mr Henderson?“
Henderson blätterte umständlich durch seine Papiere, dann zog er drei Blätter hervor und reichte sie über den Schreibtisch.
„In diesen Statistiken“, erklärte er, „sehen Sie unsere Einkäufe von barbiturathaltigen Grundstoffen. Hier sind für die vergangenen drei Monate insgesamt 265 Kilogramm verbucht. Auf diesen Lagerlisten jedoch“, er blätterte wieder durch seine Unterlagen, „sind es 320 Kilo. In der Produktion sind aber nur besagte 265 Kilogramm angekommen.“
„Was sagt die Polizei dazu?“ fragte Shroud.
„Die Polizei?“
Henderson blickte sein Gegenüber verwirrt an.
„Ich nehme an, dass Sie Anzeige erstattet haben“, antwortete Shroud.
„Natürlich haben wir Anzeige erstattet“, ereiferte sich der Unternehmer, „aber beweisen konnten wir nichts. Und dann hatte unser Computersystem einen Virus, deshalb hielt ein Inspector die Buchungen nicht für plausibel. Blödsinn!“
„Ein Virus“, wiederholte Shroud, „hm.“
Er griff nach seiner Tasse Tee – er hatte auch seinem Besucher Tee angeboten, dieser hatte jedoch dankend abgelehnt – und leerte sie.
„Sie halten Ihre Zahlen aber für korrekt, Mr Henderson?“
„Allerdings. Der Virus hat lediglich unser internes Adressverzeichnis kopiert und an alle Mitglieder Spammails gesendet. Schadsoftware konnte in unserem System nicht gefunden werden. Das hat mit den Buchungen unseres Warenwirtschaftssystems nicht das Geringste zu tun!“
Henderson schnaufte erregt, ließ den Papierstapel auf den Schreibtisch fallen und lehnte sich zurück.
„Die Polizei konnte keine Spuren von den fehlenden Barbituraten finden. Ich habe aber mit unseren Lieferanten gesprochen, die gelieferten Mengen sind definitiv deckungsgleich mit den im Lager festgestellten 320 Kilo! Und die haben sie uns natürlich auch in Rechnung gestellt.“
Henderson atmete schwer.
„Die Polizei geht deshalb inzwischen von einem Diebstahl von Außenstehenden aus dem Lager aus.“
„Und das halten Sie für unwahrscheinlich“, vermutete Shroud.
„Das halte ich sogar für ausgeschlossen!“ erwiderte Henderson mit bestimmt. „Unser Lager ist ein closed shop, 24x7! Da holt niemand so einfach was raus! Bleibt nur jemand von innen. Ungeheuerlich!“
Shroud war sich nicht sicher, was das bedeutete, aber eine diesbezügliche Frage hielt er für zu peinlich, deshalb ging er darüber hinweg.
„Außerdem“, fuhr Henderson fort, „erklärt sich dadurch nicht die Diskrepanz in unseren Unterlagen. Irgendjemand manipuliert daran herum.“
„Wer wäre denn ein Abnehmer für die Ware?“ fragte Shroud, „ist sie überhaupt ohne weiteres zu verwenden?“
„Die Barbiturate“, erklärte Henderson, „sind in Pulverform, verpackt in luftdichten Plastiksäcken zu zweikommafünf Kilo. Theoretisch kann man die Substanz mit wenig Aufwand so bearbeiten, dass man in Flüssigkeit auflösen oder sogar schnupfen kann, der Reinheitsgrad liegt bei 77 Prozent.“
„Hm“, machte Shroud, „also straßentauglich.“
„Absolut!“
„Bei 55 Kilo stellt die Ware bestimmt einen beträchtlichen Wert dar. Wie hoch ist der zu erwartende Gewinn?“
„Ich bin nicht sicher, ich kenne nicht die Preise auf der Straße.“
„Natürlich, Mr Henderson“, sagte Shroud.
„Die Polizei sprach allerdings von zweieinhalb bis drei Millionen Pfund“, fügte der Unternehmer hinzu.
Shroud unterdrückte einen Pfeiflaut. Er stellte sich vor, wie viele Süchtige mit diesen Drogen in Abhängigkeit gebracht oder gehalten werden konnten.
„Darf ich fragen, wozu die Substanz bei Ihnen verarbeitet wird?“
„Wir stellen unter anderem eine Reihe von Schmerz- und Beruhigungsmitteln her“, gab Henderson bereitwillig Auskunft, „in die die Barbiturate einfließen. Eines der Mittel, Prensamon, ist ein echter Renner!“
Henderson wirkte für einen Moment beinahe wie ein Marktverkäufer, der seine Ware auslobt.
Shroud machte sich, wie schon während der ganzen Zeit, Notizen auf einem Block.
„Sie haben vorhin angedeutet, dass Sie einen konkreten Verdacht haben, Mr Henderson.“
Jetzt zögerte der Besucher.
„Was“, fragte er vorsichtig, „können Sie denn tun, Mr Shroud?“
Shroud legte den Stift auf seinen Block und lehnte sich zurück. Diese Frage war wohl unvermeidlich gewesen.
„Nun, Mr Henderson“, antwortete er ebenso vorsichtig, „das hängt natürlich von den näheren Umständen ab. Ich würde mir die Situation nochmals genau ansehen, dann ergeben sich für gewöhnlich verschiedene Ansatzpunkte.“
Shroud hatte seinem Besucher nicht gesagt, dass er sein erster Klient war – das hatte er nicht für klug gehalten.
„Verstehe.“
Henderson schien sich einen Ruck zu geben.
„Also gut. Der Mann heißt Erland, Robert Erland, er arbeitet in der Abteilung für chemische Veredelungen, seine Adresse steht auf diesem Blatt.“
Damit reichte er Shroud eins der Dokumente, offensichtlich das Deckkblatt einer Personalakte.
„Wieso verdächtigen Sie gerade diesen Erland, Mr Henderson?“
„Nun“, die Frage war Henderson offensichtlich unangenehm, „es ergaben sich verschiedene Verdachtsmomente. Einmal hat Erland die Befugnis, Ware einzukaufen, dann hat er unbegrenzten Zugang zum Lager...“, hier zögerte er, „und er hat gleich zwei Motive.“
Shroud wartete.
„Erland sollte von uns gekündigt werden“, fuhr Henderson dann fort, „aber er hat für diesen Fall mit einer Klage gedroht. Und er hat Geldprobleme, das heißt: er hatte sie. Vor einem Jahr hatte er welche, sogar ganz massive. Ich habe gehört, es seien Spielschulden, mehrere zehntausend Pfund! Er hat sich einen Firmenkredit auf sein Gehalt geben lassen.“
Shroud nickte.
„Hört sich wie ein gutes Motiv an.“
„Heute geht es ihm offenbar finanziell bestens, er hat den Kredit bereits voll zurück gezahlt und sich vor einem Monat ein neues Auto gekauft, einen großen Audi. Von welchem Geld, frage ich mich.“
Shroud nickte.
„Würde ich auch. Was sagt er denn dazu?“
„Er“, sagte Henderson, „verbittet sich jegliche Einmischung in seine Privatangelegenheiten. Und dass er Glück gehabt hätte.“
Shroud lehnte sich zurück.
„Und die Polizei?“
Henderson verzog wie angewidert das Gesicht.
„Denen habe ich nichts von Erland gesagt. So bescheuert“, kam er Shrouds Nachfrage zuvor, „wie die sich angestellt haben: ich dachte mir, dass die dem Hinweis gar nicht nachgehen würden.“
Shroud war sich dessen nicht so sicher, behielt dies aber gleichermaßen für sich.
„Erlauben Sie mir eine weitere Frage: warum wollten sie Erland kündigen?“
Henderson runzelte die Stirn, er schien erneut mit sich zu ringen.
„Ich hatte“, sagte er dann langsam, „die Befürchtung, dass ein Mann mit dem Leumund, Spielschulden zu haben, für die Reputation unseres Unternehmens, nun, abträglich ist, aber ich konnte das natürlich nicht beweisen.“
Shroud nickte.
„Ich verstehe. Trotzdem kann es doch nicht so schwer sein, diesen Mann zu kündigen?“
Henderson blickte Shroud etwas irritiert an.
„Ganz so einfach ist das nicht“, antwortete er dann, „die Gewerkschaft, sein Vertrag.“
„Verstehe“, erwiderte Shroud, obwohl er eigentlich nichts verstand. Von dieser Materie hatte er keine Ahnung.
„Gut! Sie kümmern Sich also darum, Mr Shroud?“
„Jawohl, Mr Henderson, ich kümmere mich darum.“

 

*


„Der Name des Tages war Ruth“.
Shroud saß mit verklärtem Blick und untergeschlagenen Beinen auf dem Teppichboden im großen Raum in der Wohnung seines Nachbarn.
„Kommt noch was, oder muss ich mir den Rest denken?“
Es war ein prächtig ausgestatteter Raum, dessen Wände vom Boden bis zur immerhin knapp drei Meter hohen Decke fast vollständig von wohlgefüllten Regalen verdeckt wurden. In diesen Regalen standen neben vielen Büchern vor allem Schallplatten, CDs und Tonbänder.
An einer Stelle gab es Platz für eine große Stereoanlage, die turmförmig übereinander geschichtet Plattenspieler, CD - Player, zwei Cassettendecks, Tuner und zwei Verstärker enthielt. Auf einem zusätzlichen Regalbrett daneben befand sich eine große Mehrspurbandanlage, darunter stand ein würfelförmiges Multieffektgerät auf dem Boden, dessen LCD - Skalen nervös aufflammten. Die Musik tönte aus vier in den Zimmerecken an die Decke montierten Bassreflexboxen.
Der Fragende schenkte gerade eine bernsteinfarbene Flüssigkeit aus einer bauchigen Flasche in zwei Whiskyschwenker.
Shroud gegenüber saß er in einem mächtigen Schaukelstuhl, ihn halb erwartungsvoll, halb desinteressiert anblickend - eine faszinierende Mischung, wie der junge Detektiv fand. Sie passte zu dem Mann mit seinen langen, strähnigen Haaren, der zerschlissenen Kleidung, den bunten Bändern um Handgelenke und Stirn, dem mächtig ausladenden Bauch - dort saß, einfach ausgedrückt, ein lebendes Klischee der späten sechziger Jahre. Ein üppiger Vollbart und die selbst gedrehte Zigarette im Mundwinkel vervollständigten den Anblick.
„Wie?“
Shroud schreckte aus seinen Gedanken hoch.
„Ob noch was kommt!“
Die Stimme seines Gegenübers war sehr tief, ein reiner Bass.
„Ach so.“
Shroud war peinlich berührt von der sardonischen Art seines Gegenübers.
„Sorry. War ganz in Gedanken.“
„Soso. Also: der Name dieses Tages ist Jane ...“
„Nein“, Shroud rollte in gespielter Verzweiflung mit den Augen, „nicht Jane! Der Name des Tages war Ruth!“
„Gut“, antwortete der Hippiegestylte, „also Ruth. Und weiter?“
Shroud hatte nach dem Besuch seines ersten Klienten seine Notizen zusammengefasst und abgetippt, als er die dröhnenden Bässe lauter Musik aus seiner Nachbarwohnung hörte. Blues, der etwas skurrile Bewohner derselben, war also zu Hause und „testete Lala an“, wie er es nennen würde. Da Shroud momentan noch nicht wusste, was er mit seinem Fall tun sollte, beschloss er, seinem Nachbarn einen Besuch abzustatten.
„Ich dachte gerade an den Tag, an dem ich in London angekommen bin. Das war schon eine ganz besondere Situation.“
Blues reichte ihm eines der wohlgefüllten Gläser und stieß mit ihm an.
Shroud goutierte den Duft des Single Malt, eines Cardhu, 22 Jahre alt aus Speyside, dann nippte er vorsichtig an seinem Schwenker. Ganz wenig der Flüssigkeit benetzte seine Lippen, die er dann genüsslich ableckte. Schon diese winzige Menge des „Lebenswassers“ – er hatte sich von Blues erklären lassen, dass das Wort Whisky vom gälischen „Uisge Beatha“ stammt, was eben „Wasser des Lebens“ bedeutet – entfaltete eine Vielzahl sehr unterschiedlicher Aromen auf seiner Zunge. Es war immer wieder ein unglaubliches Erlebnis, einen Malt dieser Qualität zu verkosten, der, darauf legte Blues höchsten Wert, aus einem einzigen Fass abgefüllt war – single cask.
„Und was war so besonders an diesem Tag?“
Die Frage seines Nachbarn riss Shroud aus seinen Gedanken.
„Na immerhin begann an diesem Tag mein neues Leben.“
„Herzlichen Glückwunsch“, versetzte Blues trocken und nahm einen Schluck Quellwasser, das aus einem Krug stammte, der neben dem Whisky stand.
Shroud grummelte etwas, trank dann auch von dem Wasser, das herrlich kühl und erfrischend war und weitere Geschmacksknospen für den hervorragenden Whisky öffnete.
„Hey, willst du die Story nun hören oder nicht?“
„Ist ja gut, erzähl schon!“
Shroud lehnte sich etwas zurück und lehnte sich an eine große, mit eisernen Bändern beschlagene Holztruhe, die hinter ihm auf dem Boden stand.
„War ein verdammt merkwürdiges Gefühl, als das Flugzeug endlich zur Landung angesetzt hat. Ich wusste auf einmal nicht mehr, ob ich schon da oder doch wieder in JFK war. Erst die Ansage des Captains hat diese irre Unsicherheit behoben. Dann bin ich mit den anderen Passagieren raus aufs Landefeld und in den Shuttlebus – da waren ganz schön komische Gestalten drunter, das kann ich dir sagen!“
Blues verkniff sich ausnahmsweise einen bissigen Kommentar, er spürte, dass es seinem Gast gut tat, über seine Erinnerungen zu sprechen.
„Da war dieser Kerl mit Stirnglatze und Mundgeruch, der auch noch nach Schweiß stank, ekelhaft. War bestimmt ein Börsenmakler mit Magengeschwür.“
Beide lachten über den Vergleich.
„Jedenfalls bin ich dann ins Terminal rein – diese Flughäfen sehen wirklich alle gleich aus! – und da wurde ich auch schon ausgerufen. Das hat wunderbar geklappt. Mit den Zoll- und Einwanderungsbehörden hatte ich keine Probleme. Und dann bin ich mit einem dieser tollen Black Cabs in die City gefahren, das war klasse!“
„Und“, fragte Blues, „wie hast du dich eingelebt?“
„Ich sag dir, dieser Linksverkehr ist die Hölle! Genau so die Typen, die einen auf Cockney anquatschen. Am Anfang habe ich gar nichts verstanden!“
Der Musiker erlaubte sich ein dünnes Lächeln: dass er selbst den Londoner Dialekt nur schwer bis gar nicht verstand, verschwieg er jedoch.
„Aber die ersten Wochen im Hotel, die waren schon klasse. Sehr gediegen!“ erzählte Shroud weiter.
„Warum“, fragte Blues dann, „bist du überhaupt hierher gekommen?“
Plötzlich war es, als fiele ein Schatten über Shrouds Gesicht, seine Miene verdüsterte sich zusehends.
„Sagen wir so“, antwortete er nach einer Weile, „im Land der unbegrenzten Möglichkeiten sah ich für mich keine Möglichkeit mehr.“
„Hm“, machte Blues gedehnt, „und da war es naheliegend, vom Riesenkontinent auf diese kleine Pissinsel zu ziehen.“
Jetzt musste Shroud wieder lachen.
„Sozusagen.“
„Und warum London?“ wollte der Musiker wissen.
Ein Amerikaner in ... London?
Das war für Shroud keine Frage.
„Machst du Witze?“ erwiderte er, „London ist so viel älter als alles in den USA, eine echte Weltstadt, Herz des alten Empires. So viel Geschichte und Kultur wie hier habe ich noch niemals gespürt, nicht mal in New York!“
„Hm“, machte der Nachbar nur.
„Is a man tired of London, he is tired of life!“ zitierte der junge Amerikaner.
„Eine Frage habe ich noch“, erwiderte Blues, „wieso zum Teufel kommt jemand auf die Idee, ausgerechnet Privatdetektiv werden zu wollen?“
„Shroud überlegte kurz, dann lächelte er.
„Wieso“, erwiderte er dann langsam, „eigentlich nicht?“
Blues, der gerade an seinem Whisky nippte, verschluckte sich prompt. Nach langen Sekunden des Hustens, Japsens und Prustens, als seine Stimme nicht mehr ganz so schlimm quiekte, sagte er: „Ich wusste es: wieder so eine beknackte Yankee – Rodeo – Manhatten – Idee!“
„Was?“
Shroud musste wieder lachen.
„Und der Name des Tages war Ruth“, nahm Blues den Gedanken wieder auf.
„Ja“, erwiderte Shroud, „der Name des Tages war Ruth. Freundschaft.“
„Kein schlechter Anfang!“ resümierte der Musiker.
„Finde ich auch.“

 

*

 

Es war eine interessante Erfahrung.
Shroud begann sich für den Beruf des Privatdetektivs zu begeistern. Nach einer Recherche im Internet – Shroud sah sich den Online-Auftritt des Unternehmens an und surfte in  Suchmaschinen nach zusätzlichen Informationen – hatte er sich eine Strategie zurecht gelegt, die ganz einfach darin bestand, dem Verdächtigen, Robert Erland, so oft wie möglich zu folgen. Seine „Übungen“ in den Wochen zuvor machten sich bezahlt.
Erland wohnte in einem Außenbezirk im Südwesten von London, Spelthorne, auf der Feltham Road. Es handelte sich um ein Backsteinhaus aus den siebziger Jahren, in dem außer Erland noch zwei Familien lebten. Er wohnte in der ersten Etage.
Der Weg von der Firma, die im Norden Londons, in Barnet lag, war weit, und Shroud addierte hohe Taxiquittungen zu seiner Spesenabrechnung. Ihm kam die Idee, sich ein eigenes Auto anzuschaffen, obwohl er bisher nicht daran gedacht hatte; schließlich lebte er in der City, wo der Verkehr mörderisch war und Parkplätze meistens reines Wunschdenken.
An zwei Abenden, immer Dienstags und Freitags, fuhr Erland in die City, wobei er das Auto stehen ließ und den Bus nahm. Shroud hielt sich immer im selben Bus auf, und bei der dritten Fahrt befürchtete er, Erland könnte ihn wiedererkennen, aber der Mann achtete überhaupt nicht auf die anderen Fahrgäste.
So wurde er buchstäblich zu Erlands Schatten, war in seiner Nähe, wenn er aufstand und machte Feierabend, wenn er schließlich schlafen ging.
Nur brachte ihn diese Strategie nicht weiter.
Fast zwei Wochen folgte Shroud Erland und wunderte sich nur darüber, wie oberflächlich dieser durch die Welt ging. Er konnte sich einfach nicht vorstellen, dass er an der Stelle des Verfolgten ihn noch nicht registriert hätte.
Als er einen Abend nach Hause kam, fand Shroud einen recht unhöflichen Anruf auf seinem AB. Henderson wollte Fortschritte – Shroud saß in der Klemme. Er konnte dem Auftraggeber zwar ein lückenloses Profil über seinen Verdächtigen anfertigen – was er auch tat, um die Zeit und die damit angefallenen Kosten wenigstens ansatzweise rechtfertigen zu können – aber daraus ergab sich nicht das geringste Anzeichen für eine Schuld Erlands.
Henderson gab dem Detektiv – das Wort klang mittlerweile selbst in Shrouds Ohren etwas merkwürdig – noch bis zum Ende der zweiten Woche Zeit, dann wollte er ihm kündigen. Shroud konnte ihn sogar verstehen.
Der Freitag der zweiten Woche kam, und Henderson machte seine Ankündigung wahr: er kündigte Shrouds Engagement.
War seine Karriere als Privatdetektiv damit beendet, bevor sie richtig begonnen hatte?
Shroud wollte das nicht wahrhaben.
Vielleicht war es ja einfach so, dass Erland tatsächlich unschuldig war – aber irgendwie glaubte der junge Amerikaner auch das nicht. Es sprach einfach zu viel gegen den Mann, den er so gut zu kennen glaubte. Shroud merkte, dass eine Beobachtung, sei sie auch noch so nah wie er an Erland war, nicht zwangsläufig etwas auszusagen hatte.
Mit beginnender Verzweiflung fragte sich Shroud, was er nun tun sollte. Offiziell war er gefeuert worden, das hieß aber nicht, dass er sich geschlagen gab.
„Noch nicht, du Schweinehund!“ sagte er leise vor sich hin. „Noch lange nicht!“
Shroud nahm sich vor, den Angestellten noch das gesamte Wochenende zu verfolgen. Er spielte sogar mit dem Gedanken, ihn mit den Vorwürfen zu konfrontieren – aber was konnte das schon nutzen?
Nun, dachte der Detektiv, weniger als die Verfolgung konnte ja nicht dabei herauskommen.
Samstag Nachmittag fuhr Erland mit seinem schönen neuen Audi zur Rennbahn. Shroud folgte ihm in einem Taxi, das er einem erbost schimpfenden Pärchen vor der Nase weggeschnappt hatte. In Gedanken entschuldigte er sich bei den jungen Leuten, aber er brauchte den Wagen dringender, davon war er überzeugt.
Erland in der Menschenmenge, die zwischen dem Turf und den Wettschaltern hin- und herwogte, nicht zu verlieren, war eine ganz schöne Herausforderung – aber Shroud schaffte es. Mit seiner Kamera dokumentierte er wie an allen Tagen zuvor auch diese Verfolgung, natürlich so, dass Erland davon nichts mitbekam. Und plötzlich wurde es interessant.
Denn Erland, der Angestellte aus einem Pharmabetrieb, setzte unglaublich hohe Summen, sowohl auf Favoriten als auch auf Außenseiter. Und er verlor ständig. Ein paar der Abschnitte, die der Spieler erbost wegwarf, konnte Shroud an sich nehmen. Allein diese Belege beliefen sich auf über zehntausend Pfund.
„Gotcha!“ sagte der Detektiv lauter als beabsichtigt und machte, dass er in der Menge außer Sichtweite Erlands kam, der sich umgedreht hatte.
Shroud ließ Erland sozusagen von der Kette, indem er ihn bloß noch aus größerer Ferne beobachtete. Er machte aber weiterhin Fotos. Soweit er es mitbekommen hatte, hatte Erland in jedem der acht Rennen des Tages mehrere Wetten abgeschlossen. Wenn diese alle so hoch ausgefallen waren wie die, deren Abschnitte er in Händen hielt, dann summierte sich Erlands Verlust dieses Nachmittags auf deutlich über fünfzigtausend Pfund Sterling.
„Gotcha!“ sagte Shroud erneut, diesmal aber sehr leise. Dann verschwand er aus der Zuschauermenge und gesellte sich zum Parkplatz, um Erland zu folgen, wenn dieser die Rennbahn verließ.
Dieser kam auch bald, und sein Gesichtsausdruck ließ nicht gutes vermuten. Er hatte bestimmt auch in den letzten Rennen nichts gewonnen!
Shroud erwischte ein anderes Taxi und folgte Erland nach Hause, wo dieser sich für zwei Stunden in seiner Wohnung verkroch.
Shroud knurrte der Magen, aber er hielt die Stellung unweit des Hauseingangs. Es war gegen zwanzig Uhr an diesem Samstag, als der Verdächtige – nein, der Schuldige, wie Shroud sich in Gedanken korrigierte, wieder herauskam und in Richtung Bushaltestelle ging. Der Detektiv folgte ihm auch jetzt wieder, und ein Gefühl von Jagdfieber hatte ihn gepackt.
Denn anders als an den voran gegangenen Abenden hatte Erland heute eine Umhängetasche über die Schulter geworfen, die dem Anschein nach wohl gefüllt war. Mit was?
Die Fahrt endete östlich der City auf der Mile End Road an der Bow Road Station. Hier war Erland zuvor noch nie gewesen.
Shroud hielt gebührenden Abstand, als Erland in eine Nebenstraße einbog. Vorsichtig lugte er um die Ecke – und dort, etwa zwanzig, fünfundzwanzig Meter entfernt, stand der von ihm so ausdauernd Verfolgte und sprach mit einem anderen Mann.
Shroud hob die Kamera, die er natürlich noch dabei hatte, zoomte die Szene heran – er hoffte, dass der extrem lichtempfindliche Film, den er eingelegt hatte, im Schein der Straßenbeleuchtung verwertbare Bilder aufnahm – und begann zu fotografieren.
Erland fühlte sich offenbar völlig sicher, jedenfalls öffnete er seine Umhängetasche, zeigte etwas, das weiß schimmerte, dann übergab er dem anderen die Tasche. Dafür bekam er einen braunen, prall gefüllten Umschlag, etwa halb so groß wie eine Druckerpapierseite; Erland steckte ihn in die Innentasche seines Mantels.
War das der Beweis?
Was anderes als die Barbiturate hatten gerade den Besitzer gewechselt? Oder hatte Erland nur einige alte Haushaltsgegenstände an einen Sammler verkauft?
Das war der Knackpunkt. Shroud wusste es nicht, und die Fotos bewiesen nichts außer den Austausch von irgendwas. Aber sein Gefühl sagte ihm, dass er ganz dicht dran war.
Er musste jetzt auch dranbleiben, denn das, was er bisher hatte, reichte nicht aus, denn die Wettabschnitte von der Rennbahn trugen keinen Namen. Außerdem mussten die ganzen Bilder erstmal auch noch etwas geworden sein...
Unmittelbar trennten sich die Männer, und Shroud sah zu, dass er Abstand zwischen sich und den Verdächtigen schuf. Er wechselte die Straßenseite und mischte sich unter eine Touristengruppe, die dort wer-weiß-wohin ging.
Sich weiter an Erland zu hängen, davon hielt der junge Detektiv nichts. Er konnte nämlich kaum an den Inhalt des Umschlags heran, der höchstwahrscheinlich viel Geld enthielt. Höchstwahrscheinlich.
„Scheiße!“ fluchte Shroud leise. ‚Höchstwahrscheinlich’ war aber auch kein Beweis.
Also begann der Detektiv, dem anderen Mann zu folgen. Dieser war Kaukasier, ein dunkler Typ allerdings, mit schwarzen Haaren und einem dichten Oberlippenbart. Anders als Erland achtete der sehr genau auf seine Umgebung und fasste Shroud scharf ins Auge, als dieser auf der anderen Straßenseite an ihm vorbei zog. Ihm würde der Detektiv nicht so leicht folgen können, das stand fest.
Shroud schaltete den Blitz der Kamera ein und machte ein paar Bilder von der Straße, dabei benahm er sich absichtlich ziemlich auffällig, einer der unzähligen Besucher eben. So ließ das Interesse des Schnauzbärtigen an ihm auch recht schnell nach.
Die Straßen füllten sich, aus den Kneipen kamen immer mehr Menschen. Der Tag neigte sich langsam seinem Ende zu, und schließlich gab es noch andere Pubs aufzusuchen.
Shroud schlenderte mit einigen dieser Leute in die Richtung wie der Kaukasier, der die Umhängetasche Erlands sehr nah am Körper hielt, als seien darin wahre Schätze verborgen. Irgendwann verschwand er in einem Haus mit langem Flur.
„Mist!“
Der Detektiv ging ein Stückchen weiter bis zur nächsten Ecke. Was tun?
Er drehte um, ging, immer noch auf der anderen Straßenseite, an dem Haus vorbei, in dem der Bärtige verschwunden war. Von außen war nichts zu sehen.
„Verflucht!“
So hatte Shroud sich das Ganze nicht vorgestellt. Was konnte er tun?
Eigentlich blieb nur eine Option: hinter dem Mann her, in das Haus hinein.
Er wusste natürlich nicht, wo sich der Kerl dort aufhielt. Außerdem konnte die Situation sehr schnell sehr gefährlich werden. Wenn er ihn dort aufspürte und es sich wirklich bum einen Drogenhändler handelte, der schreckte bestimmt nicht vor Gewaltanwendung zurück.
Shroud besaß eine Schusswaffe, die er jedoch zu Hause gelassen hatte. Darüber ärgerte er sich jetzt. Andererseits: was sollte eine wilde Schießerei in den Straßen Londons denn bringen?
Der Detektiv schluckte, dann gab er sich einen Ruck, überquerte die Straße und betrat den Hausflur.
Zwei kleine Lämpchen an der Wand verbreiteten ein trübes Licht. Da es draußen auch nicht viel heller war, konnte Shroud den Flur aber gut überblicken. Rechts und links gab es zwei Türen, Wohnungstüren, wie er vermutete. Hinten führte eine weitere Tür mit einer darin eingelassen Milchglasscheibe wohl zu einem Hinterhof. Rechts davon gab es eine Treppe. Langsam, sich in der Mitte des Ganges haltend, schritt der junge Amerikaner durch den Flur. Er versuchte, irgendwelche Geräusche wahrzunehmen, aber er konnte nicht unterscheiden zwischen dem, was von draußen herein schallte und dem, was hinter den Türen vor sich gehen mochte.
Seine Nerven waren so angespannt wie seine Muskeln. Shroud war ausgebildeter Kampfsportler, und so bewegte er sich unbewusst leise und geschmeidig, eine Hand hielt die Kamera, die andere war zur Faust geballt.
Er horchte gerade in Richtung der letzten Tür auf der rechten Seite, als die davon gegenüber liegende plötzlich aufgerissen wurde.
Shroud fuhr herum.
Auf der Schwelle stand der Kaukasier, von der plötzlichen Begegnung nicht weniger überrascht als der Detektiv.
„Was zur Hölle …“
Shroud handelte instinktiv, als er die Kamera hochriss und den Auslöser drückte. Gleichzeitig hatte er den Kopf abgewendet. Der Blitz erhellte den Flur mit seinem strahlenden Licht. Der Mann mit dem Schnurrbart bekam ihn genau in die Augen.
Er stieß einen Laut der Überraschung aus und taumelte zwei Schritte zurück. Shroud nutzte die Gelegenheit und versetzte ihm beim Vorbeilaufen einen Stoß mit dem Handballen, so dass er das Gleichgewicht verlor und hinfiel.
Da war der Detektiv schon an ihm vorbei und mit wenigen Sätzen aus dem Hausflur heraus. Vor der Tür prallte er gegen eine junge Frau und stieß sie um. Ohne darauf und ihr Gezeter Rücksicht zu nehmen, rannte er weiter, den Weg zurück, den er gekommen war. Zur Underground.
Hinter sich hörte er das Geschrei und vereinzelte Flüche, aber er sah sich zunächst nicht um.
Erst an der Ecke, von der aus er die Bilder geschossen hatte, warf er einen schnellen Blick hinter sich. Da rannte der Kaukasier, zwei weitere Männer neben sich, dem Detektiv auf den Fersen.
„Scheiße!“ fluchte Shroud und rannte weiter, so schnell er konnte. Vielleicht hätte er es mit den drei Kerlen aufnehmen können, schließlich hatte er einen schwarzen Gürtel, aber der Gedanke kam ihm gar nicht.
Shroud war gut in Form, und so konnte er seinen Vorsprung immer weiter ausbauen. Schließlich erreichte er die Underground und einen Zug, der gerade abfuhr. Ihm war völlig egal, wohin die Reise ging. Nur weg!
Erst drei Stunden später, es war weit nach Mitternacht, erreichte der Detektiv seine Wohnung, nachdem er lange Zeit wie ziellos durch die Gegend gefahren war, bis er sicher war, dass niemand ihm folgte. Dennoch war er nicht unzufrieden.
Aber hatte er wirklich etwas in der Hand? Plötzlich fühlte er eine tiefe, frustrierende Unsicherheit.

 

*

 

Dave Gilbert, sein Nachbar aus der dritten Etage, arbeitete in einem Werk, das Fotos aller Art entwickelte. Shroud hatte, als er die ersten Filme zur Übung geschossen hatte, mit David vereinbart, dass dieser die Bilder schnell entwickeln und abziehen ließ, so dass der Detektiv die Fotos spätestens am nächsten Tag erhielt. Die ersten wichtigen Bilder schickte David ihm mit einem Taxi, weil es besonders eilig war. Zwar nicht von überragender Qualität, zeigten die Fotos doch deutlich die Szene der Übergabe, auch die Gesichter waren einwandfrei zu erkennen. Während Shroud auf die Fotografien wartete, hatte er am PC unter Schwierigkeiten einen vollständigen Bericht nach seinen Notizen geschrieben.
„Schlag nicht auf den Rechner!“ war der Satz, den er sich immer wieder selbst sagte.
„Schlag nicht auf den Rechner!“
Endlich war er fertig und hatte auch die Bilder vor sich liegen. Dann telefonierte er mit seinem Auftraggeber, Mr Henderson.
Dieser war nicht wenig erstaunt und erstmal ziemlich sauer, schließlich hatte er Shroud ja schon zwei Tage vorher gefeuert.
Shroud verkaufte ihm den Bericht und die Bilder allerdings als erste handfeste Ermittlungsergebnisse. Auch mit den Fotos empfand er die Beweislage allerdings immer noch als zu dünn.
Nicht so Henderson.
„Jetzt“, sagte dieser mit hörbar zufriedenem Unterton in der Stimme, „habe ich endlich Beweise, die ich der Polizei übergeben kann!“
Shroud war sich dessen nicht so sicher.
Als der Detektiv am nächsten Morgen einen Anruf von Henderson bekam, rechnete er mit dem Schlimmsten.
„Volltreffer!“ sagte statt dessen der Unternehmer. Shroud, der nicht wusste, was dieser damit meinte, fragte vorsichtig nach.
„Der Kerl“, erklärte Henderson bereitwillig, „dem Erland die Tasche übergeben hat, ist ein gesuchter Drogendealer! Dank Ihrer Fotos und des Berichts hat die Polizei ihn gestern Abend verhaftet. Zwei Kilo Barbituate, noch original verpackt, hat man bei ihm gefunden.“
Hendersons Stimme steigerte sich zur Begeisterung.
„Außerdem hat der Kerl ein Geständnis abgelegt, und Scotland Yard hat daraufhin bei Erland eine Hausdurchsuchung vorgenommen. Und sie haben dort weitere Pakete unserer Barbiturate gefunden! Und dann waren da noch Fingerabdrücke auf den Wettscheinen, die Erland zugeordnet werden konnten.“
Henderson versicherte Shroud seine große Dankbarkeit und bat um die Rechnung, die er schnellstens bezahlen wollte. Außerdem versprach der Unternehmer dem Detektiv, ihn wärmstens weiter zu empfehlen. Dass er ihn eigentlich gefeuert hatte, erwähnte er wohlweislich nicht mehr. Auch der Detektiv ließ das unter den Tisch fallen.
Shroud war noch Minuten nach dem Telefonat völlig aufgeregt. Mit dieser extrem positiven Wendung hatte er überhaupt nicht gerechnet. Erst Stunden später begriff er, dass er seinen ersten Fall gelöst hatte.
Endlich stellte sich auch ein Gefühl tiefer Zufriedenheit ein.
Jetzt endlich war er Detektiv!

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KAPITEL ZWEI

„Hey du Arsch, was machste da?“
Der zweite Fall lief nicht so gut, zumindest lief er völlig anders. Es war ein Auftrag, von dem Shroud geglaubt hatte, dass es so etwas nur in alten Filmen gab: ein Ehemann, der sich von seiner Frau betrogen wähnte, engagierte ihn, um – so oder so – Beweise zu finden.
Das, was ihm im ersten Fall so dienlich gewesen war, nutzte Shroud auch jetzt: er folgte der Frau, so oft es eben ging. Ihm kam entgegen, dass sie ausschließlich mit öffentlichen Verkehsmitteln, dem Bus oder der Underground unterwegs war, und tagsüber fuhren dort so viele Menschen herum, dass die Verfolgung relativ einfach war, zumal die Frau sich auch überhaupt nicht beobachtet wähnte.
Einen Nachmittag fuhr Mrs Neline Eadie mit dem Zug nach Greenwich, Shroud immer auf ihren Fersen. Die Frau war recht attraktiv, Mitte dreißig, schlank, gute Figur. Das kurzgeschnittene, hellbraune Haar umrahmte ein hübsches Gesicht mit ausdrucksstarken, braunen Augen und einem volllippigen Mund.
An der Themse, direkt gegenüber der Isle of Dog, betrat sie ein Appatmenthaus in der Thames Street und dort eine Wohnung im ersten Obergeschoss, wie Shroud gerade noch von der anderen Straßenseite durch die Fenster des Treppenhauses sehen konnte.
Der Detektiv fluchte. Wie sollte er jetzt an Bilder kommen, wenn dort etwas Anrüchiges geschah?
Etwas Anrüchiges?
Für einen Moment verharrte Shroud.
Wenn eine Ehe in die Brüche ging, lag es wohl nie nur an einem der Partner. Wenn es schon soweit war, dass fremd gegangen wurde, war es seiner Meinung nach eh zu spät. Warum also noch Beweise sammeln? Für ein schmutziges Scheidungsverfahren?
Dann verdrängte der Detektiv den Gedanken – es ging ihn schließlich nichts an, wie sein Klient diese Angelegenheit handhabte.
Shroud sah sich um. Gegenüber des Hauses gab es eine Mauer, die knapp zwei Meter hoch war. Er überlegte kurz, dann entschloss er sich zu versuchen, ob er von dort etwas sehen konnte. Da er jung und sportlich war, bereitete es ihm keine Mühe, dort hinauf zu kommen. Die Mauer war mit gut fünfzehn Zentimetern auch breit genug, um darauf stehen zu können – obwohl er sich oben vorkam wie ein Vogel auf der Stange. Nachdem er einen sicheren Stand eingenommen hatte, brachte er seine Kamera in Anschlag. Mit dem Teleobjektiv war es kein Problem, in die Fenster der Wohnung im ersten Stock zu blicken, die nicht von Gardinen oder Vorhängen verdeckt waren.
Ein fremder Mann zog Neline Eadie gerade den BH aus und beugte sich vor, um ihre Brüste zu küssen. Shroud schloss einen Moment die Augen, er kam sich vor wie ein mieser kleiner Spanner. Dann stellte er das Objektiv scharf und betätigte den Auslöser.
Er machte bestimmt zwanzig Bilder, während das Liebesspiel in der Wohnung immer intensiver wurde. Als Mrs Eadie dem Mann die Boxershorts herunter zog und sich vor ihn hinkniete, senkte Shroud die Kamera und den Kopf. Es reichte!
„Hey du Arsch, was machste da?“
Shroud fuhr heftig zusammen und verlor für einen Moment das Gleichgewicht. Er schaffte es jedoch, sich auf der Mauerkrone zu halten. Dann, Sekunden später, sah er runter auf die Straße.
Dort standen zwei junge Männer, vielleicht Anfang zwanzig, gekleidet in militärisches Outfit: Tarnanzüge und Springerstiefel. Auf der Brust trug jeder von ihnen allerdings ein sehr unbritisches Symbol: ein Hakenkreuz, daneben einen Aufnäher mit der Aufschrift Combat 18.
„Ich rede mit Dir, Arschloch!“
Der Wortführer war schlank und durchtrainiert, während sein Begleiter zu Übergewicht neigte, weswegen seine Drohgebärde etwas lächerlich wirkte.
„Das ist nicht zu überhören“, erwiderte Shroud.
„Willst Du noch unverschämt werden, mieser Spanner?“
Shroud zog es vor, darauf nicht zu antworten, trotzdem spürte er, wie aus anfänglichem Schrecken langsam Zorn wurde.
„Komisch“, sagte er deshalb, „das wollte ich dich auch gerade fragen.“
Die beiden Männer sahen sich verdutzt an. Diesen Moment nutzte der Detektiv, um von der Mauer zu springen. Er federte sich ab und stand dann etwa drei Meter von den beiden anderen auf dem Gehweg.
„Wenn du eins auf die Fresse willst, musste das nur sagen!“
Das war der andere. Shroud blickte ihn abschätzend an.
„Von dir sicher nicht!“
Die Kerle gingen ihm total auf die Nerven – und er war wegen der Ermittlung gegen die Frau sowieso schon mehr als erregt.
Plötzlich rannte der Untersetzte los und holte dabei zu einem gewaltigen Schwinger aus. Es fiel dem Detektiv mit seinem schwarzen Gürtel in Karate nicht schwer, diesem dilettantischen Angriff auszuweichen und den Kerl, der ziemlich in Fahrt war, durch ein gestelltes Bein zu Boden zu bringen.
Daraufhin zog der andere ein Messer.
Shroud dachte kurz an die Pistole, die wieder in seinem Keller im Waffenschrank lag – und wieder bereute er, sie nicht dabei zu haben – dann legte er die Kamera schnell zu Boden und ging in Kampfstellung.
„Und was jetzt, Arschloch?“
Der Bewaffnete stierte ihn aus eng geschlitzten Augen an, auf seiner Stirn perlte der erste Schweiß.
Inzwischen hatte sich der zweite wieder aufgerappelt und ging zurück zu seinem Kameraden, wobei er einen großen Bogen um Shroud machte.
„Komm, lass uns abhauen! Den Arsch knöpfen wir uns später vor.“
Der mit dem Messer zögerte, sein Blick ging hektisch zwischen dem Detektiv und seinem Komplizen hin und her.
Dann, plötzlich, warf er sich herum und rannte los.
„Hey, warte auf mich!“
Keuchend hastete der Dicke dem anderen nach.
Shroud brauchte eine Weile, um sich zu beruhigen.
„Mieses Pack!“ schimpfte er vor sich hin. Dann klaubte er die Kamera auf und machte sich auf den Weg zum Bahnhof. Immer wieder sah er sich um, nur für den Fall ...
Als er am nächsten Abend seinen Klienten traf – aus verständlichen Gründen hatte der ihn nicht in seine Wohnung bestellt, sondern in einen Pub in der Nähe – und ihm das Material gab, rechnete er mit einem heftigen Gefühlsausbruch angesichts der eindeutigen Fotos.
Eadie zuckte jedoch nicht einmal mit der Wimper, als er die Bilder betrachtete. Dann zückte er die Brieftasche und bezahlte die Rechnung in bar.
„Vielen Dank!“ sagte er noch, dann verließ er auch schon den Pub.
Shroud hatte ein ungutes Gefühl. Was, wenn der Betrogene seine Frau zusammenschlug? Oder Schlimmeres? Hatte er, Shroud, dann nicht auch eine Mitschuld daran?
Er bestellte sich ein Ale und nahm sich vor, von solchen Aufträgen zukünftig Abstand zu nehmen. Arbeit und Ergebnis waren ihm sauer aufgestoßen.

 

*

 

„Das Prinzip ist relativ einfach, weißt du.“
David Gilbert lehnte sich in den Sessel zurück, hob sein Glas, in dem frisches Ale prickelte, und nahm einen Schluck der kühlen Flüssigkeit. Auch Briten tranken Bier unterhalb Zimmertemperatur.
„Eine Papiermaschine musst du dir vorstellen wie eine lange Wanne, unterteilt in mehrere Bäder mit verschiedenen Chemikalien und Wässerungen. Dazu kommen noch an einem Ende eine Dunkelkammer zum Einhängen der Fotopapierrollen an ein Plastikförderband und am anderen Ende ein Trockenschrank zum, na ja, Ausdörren der Papierbahnen.“
Noch ein Schluck Ale, sein Gastgeber trank ihm zu.
„Die Reihenfolge der Bäder, durch die die Fotorollen mit dem Schleppband gezogen werden: zuerst kommt der Entwickler, dann das Bleichfix, dann das Wasser. Und vorne, hinter dem Trockenschrank, nimmst du die fertigen Fotobahnen ab, ziehst sie auf Papprollen und reichst sie weiter zur Qualitätskontrolle.“
Shroud schob sich noch etwas tiefer in den Schaukelstuhl aus Korbgeflecht hinein, ächzte behaglich auf und trank sein Glas aus.
„Das ist ja alles sehr interessant. Ich danke dir übrigens noch mal für die schnelle Entwicklung der Fotos, das ging ja wirklich super, und toll geworden sind sie auch. Macht ihr auch Vergrößerungen?“
„Klar“, sagte David, „so bis 50 mal 70 gar kein Problem. Billiger ist aber, wenn du etwas kleinere Formate wählst, so bis 35 mal 45.“
Das war ja auch schon ganz ansehnlich.
„Und Postkarten oder ähnliche Dinge vergrößert ihr auch, hast du gesagt?“
„Ja, das ist Aufgabe des Minilabs, einer eigenen, kleinen Papierentwicklungsmaschine.“
Shroud erhob sich aus seinem Schaukelstuhl, streckte sich faul, ging in die Küche und holte zwei weitere Flaschen Ale aus dem Kühlschrank. Er schenkte David nach, ließ die eigene Flasche aber dann stehen und beschloss, statt dessen ein Pfefferminzbonbon zu lutschen. Kurzfristiges Schweigen breitete sich in dem Zimmer aus.
„Und“, fragte David endlich, „wie läuft dein Geschäft?“
„Tja“, antwortete Shroud. Im selben Moment erklang die Türglocke. Shroud stand ruckartig auf, in seinen Bewegungen keine Spur mehr von Trägheit.
„Moment!“
Augenblicke später öffnete er die Haustür: dort stand eine Frau, ganz im Halbschatten des Treppenhauses, mit zerzaustem Haar und derangierter Kleidung. Sehr teurer Kleidung allerdings. Unter ihren Augen vermeinte Shroud die Schatten von dicken Rändern zu erkennen - die Frau hatte ein Problem.
„Mister Shroud?“
Eine vorsichtige, abschätzende Frage, eine raue, fast brüchige Stimme.
„Kommen Sie bitte herein, Madam!“
Die Frau trat nun in das Licht der Wohnung, und der junge Detektiv geleitete sie in das Arbeitszimmer. Erst jetzt fiel ihm auf, dass dort überall auf den Möbeln ein hauchdünner Staubfilm lag. Glücklicherweise hatte die Frau kein Auge für diesen Umstand - nicht in ihrem jetzigen Zustand. So zerzaust und derangiert wirkte sie allerdings jetzt nicht mehr, aber Shrouds Eindruck von ihrer Kleidung bewahrheitete sich: sie war teuer.
Die Frau war etwa Anfang, Mitte vierzig und zierlich gebaut, was mit ihrer Körpergröße von unter einssiebzig korrespondierte. Sie trug der herrschenden Witterung angemessene Kleidung, eine weiße Seidenbluse, einen Plaidrock, eine dünne Seidenweste. Verschiedene Töne von grau und blau, sehr distinguiert, sehr konservativ. Dunkelblaue Lackschuhe. Die Haare dunkelblond und glatt frisiert, in ganz weichen Wellen das runde Gesicht einrahmend. Wenig Schmuck - ein Paar winzige Ohrstecker, ein dünnes Kettchen mit herzförmigem Medaillon, an jeder Hand zwei Ringe, davon ein breiter Ehering, ein grobmaschiges Kettenarmband rechts. Gold und Diamanten. Sehr gediegen, aber nicht aufdringlich.
Haartracht und Kleidung in leichter Unordnung. Wie ihr Gemütszustand.
Sie nahm Platz auf einem der lederbespannten Stühle, Shroud ihr gegenüber hinter dem Schreibtisch in seinem dunkelblauen Chefsessel.
Abschätzung und Aufmerksamkeit. „Was kann ich für Sie tun, Mrs ...?“
Nach angemessener Zeit brach Shroud das Schweigen. Sie schien aufzuschrecken. Einige Sekunden vergingen, in denen sie sich sammelte.
„Mein Mann weiß nicht, dass ich hier bin.“ Shroud schwieg. „Können Sie mir helfen?“
Shroud versuchte, ein Vertrauen erweckendes Lächeln aufzusetzen, devot und charmant. Er hatte eigentlich immer gute Karten bei Frauen gehabt.
„McPhornem, Clarissa S. McPhornem, Esquire. »
Sie brauchte Zeit nach dieser Eröffnung, musste neuen Mut fassen. Ihre Stimme festigte sich allerdings langsam, sie sprach das gut akzentuierte Idiom der Oberschicht.
„Mein Mann ist Sir Myerson McPhornem, Abgeordneter im House Of Lords. Unser Sohn Harold...“
Sie war noch nicht soweit. „Ja...“ half ihr Shroud.
Die Schatten unter ihren Augen zeigten: sie hatte geweint. Auch jetzt schimmerten ihre Augen wieder feucht.
„Er ist entführt worden.“
Ein eisiger Schauer rieselte Shrouds Wirbelsäule hinab. Eines der widerwärtigsten Verbrechen war verübt worden. Menschenraub. Kidnapping, der Versuch, aus niedersten Motiven Geld zu erpressen.
Welche Herausforderung für ihn, den Jungdetektiv.
„Bitte erzählen Sie!“
Abermals sollte seine Stimme ruhig klingen. Abermals war er sich dessen nicht sicher.
Die Frau holte eine Zigarettenspitze aus ihrer kleinen Krokotasche, und Shroud entzündete die schlanke Zigarette. Er war Nichtraucher, aber vorbereitet.
„Vor zwei Tagen“, ein tiefer Lungenzug, „kehrte Harold nicht von seiner Golfstunde zurück. Abends erhielten wir den Anruf. Eine Million Pfund.“ Hektisches Rauchen.
Shroud machte einige Notizen auf einem Block. Durch vorsichtiges Nachfragen erfuhr er dies: Bilder waren übersandt worden. Bilder, die den gefangenen Jungen in einem abgedunkelten, neutralen Raum zeigten. Eine unmissverständliche Drohung: er würde sterben, sollte nicht gezahlt werden. Der Vater hatte sich sofort an Scotland Yard gewandt. Der leitende Beamte der Ermittlung hatte zur Hinhaltetaktik gemahnt. Die Entführer seien nicht minder nervös als die Eltern. Psychologie der Unbeteiligten.
Jetzt hatte es die Frau nicht länger ausgehalten: diese quälende Untätigkeit, dieses Nerven zerfetzende Warten - sie hatte im Telefonbuch unter „Detektive“ nachgeschlagen und sich von einem Taxi zu dem ersten fahren lassen, auf dessen Name ihr Finger deutete.
Zu Shroud.
„Können Sie mir helfen?“
„Was können Sie mir sonst noch sagen?“
Die sprichwörtliche Nadel im Heuhaufen. Wo sollte er nur anfangen?
Sie rauchte eine weitere Zigarette. Dann nahm sie einige Fotos aus ihrer Tasche, Bilder des entführten Jungen. Shroud blickte darauf und war erschüttert: im Gesicht des Zwölfjährigen war Angst und Verzweiflung zu lesen. Er sah seiner Mutter sehr ähnlich, und jetzt zeigte auch ihr Gesicht dieselben Gefühle, wie ein ferner Spiegel.
„Diese Bilder habe ich denen entnommen, die uns übersandt worden sind. Es waren sehr viele, und alle zeigen sie dasselbe!“
Eine einzige Träne rann die rechte Wange hinab, dann hatte Mrs. McPhornem sich wieder in der Gewalt.
„Ich werde ihn suchen.“ sagte Shroud.
„Bringen Sie ihn mir zurück“, flüsterte sie heiser, „bitte ...“
„Ich werde ihn finden!“
Mit zittriger Hand hatte sie noch den Auftrag unterzeichnet und war dann gegangen. Eine verzweifelte Frau mit der verzweifelten Absicht, irgend etwas zu tun, um nicht weiter warten zu müssen. Nur nicht mehr dieses furchtbare Warten. Shroud war so etwas wie ein Hoffnungsschimmer, ein Strohhalm. Ein Strohhalm in einem Heuhaufen von 1579 Quadratkilometern.
Viel verlangt von einem Berufsanfänger.
Grausame Welt.
David hatte inzwischen den gesamten Biervorrat vertilgt, wie Shroud erschüttert feststellen musste. Nach einem Whisky war ihm jetzt nicht, so blieb für ihn nur Mineralwasser. Immerhin auch erfrischend.
Als er abermals in das Zimmer ging, wo er mit David saß, hatte dieser die Fotos in Händen, die Shroud von Mrs. McPhornem bekommen hatte.
Das führten denn doch zu weit. „Gib das her!“
Die Biere zeigten langsam Wirkung.
„Nicht besonders, die Qualität.“ sagte David mit schwerer Stimme.
„Darum geht's doch gar nicht“, erwiderte Shroud ungehalten.
„Die Kollegen der Negativentwicklung hätten sich ruhig mehr Mühe geben können.“
Es dauerte einen Augenblick, bis Shroud sich der Bedeutung dieser Worte bewusst wurde. Fast hätte er dann sein Glas fallen lassen.
„Wie bitte?“
„Ja“, sagte David mit entnervender Langsamkeit, „die Fotos sind von uns. Siehst du am Stempel auf der Rückseite.“
Er rülpste verhalten. „Das ist unser Stempel.“ Eine Spur, unvermutet, völlig überraschend.
„David“, sagte Shroud zuckersüß, „mein guter Freund David ...“

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KAPITEL DREI

Es war schon Herbstmond in der Stadt, doch war davon draußen in den Straßen nichts zu merken. Statt der erwarteten Wolken und dem englischen Regen brannte immer noch eine glutende Sonne am Himmel, Tag für Tag.
Die Temperaturen um dreißig Grad Celsius hätte man als angenehm empfinden können, wären sie nicht die Sendboten feuchter Schwüle gewesen. Arbeit im Freien oder im Haus hatte zunächst einmal nur reichlich Schweiß zum Lohne.
September in London.
Meteorologen sprachen von Hitzewellen mit Hitzerekorden, einer nannte die Temperaturwerte gar „für die Jahreszeit zu warm“. Auch britisches Understatement konnte man übertreiben, fand Shroud. Grundsätzlich hatte er nichts gegen die Witterung einzuwenden, schließlich war er aus den USA Schlimmeres gewöhnt - nur war er ärgerlich über alles, was ihn an die alte Heimat - die Betonung lag auf alt - erinnerte.
September in London. Shroud wartete.
Eine seiner größten Tugenden war die Geduld, und damit hatte er sich bereits zu einem großen Teil für seinen Wahlberuf qualifiziert.
„Es gibt drei Wege für den Detektiv, zu Ergebnissen zu kommen“, sinnierte er leise vor sich hin, „man recherchierrt die Fakten, erarbeitet die Lösung durch provozierende Aktionen, oder man harrt der kommenden Dinge.“
Shroud wartete.
Und er konzentrierte sich auf den Fall.
Die Füße untergeschlagen saß er im halben Lotus auf einer Reismatte in seinem Wohnzimmer, den Rücken gerade, den Bauch mit Luft hart herausgepresst, den Atem ruhig und kontrolliert. Seit mehreren Wochen hatte er wieder angefangen, regelmäßig zu trainieren. In seinem Keller hatte er eine Reisstrohmatte ausgelegt, auf der er den Kampfsport und die dazu gehörenden Übungen praktizierte.
Das Telefon war in Reichweite, Shroud wartete. Er konnte sich sehr gut in David hineinversetzen, den er benutzte, um in seinem Fall Fortschritte zu erzielen. Er stellte sich vor, wie der kleine Mann und die Kollegen an den vorüberziehenden Fotobahnen standen und auf einen Film, auf einen Auftrag unter Tausenden warteten. Wenn die Fotos erschienen –  und das mussten sie der Theorie nach an diesem Tag, wollten die Entführer sich doch abends wieder bei den Eltern des Jungen melden – würde Gilbert alles daran setzen, den Namen des Kunden von diesen Fotos herauszubekommen.
Gleichwohl wusste Shroud, dass die Wahrscheinlichkeit gegen ihn war. In der großen Fotofabrik wurden Tag für Tag zigtausende von Bildern entwickelt, um auf langen Bahnen durch die Entwicklungschemie gezogen, zu großen Rollen über die Sichttische der Endkontrolle geführt und später erst zu den einzelnen Aufträgen auseinander geschnitten zu werden, als die sie eingingen. Eingingen von vielen Fotoshops, Kaufhausfilialen, Drugstores und anderen Geschäften oder abgegeben gleich in der Fabrik als Hausauftrag.
Eins zu einer Million. Ein Fünkchen Hoffnung. Kommissar Zufall. Dennoch alles, was Shroud momentan hatte.
Das Telefon klingelte.
Vor dem zweiten Läuten war Shroud am Apparat.
„Ja?“
Es war seine Privatnummer, geschäftlich hatte er eine andere, der er einen anderen Klingelton zugeordnet hatte. Es konnte also kein Kunde sein.
Es musste nicht David sein.
Blues rief schon mal an, anstatt zehn Meter zu Fuß zu gehen.
„Gut. Ich danke dir.“
Mit einer fließenden Bewegung erhob sich Shroud, ging zur Garderobe und öffnete den Kleiderschrank, der dort in die Wand eingelassen war. Vom obersten Regalbrett nahm er das Pistolenhalfter und legte es an. Die Waffe, eine Beretta 92FS-C – Compact, steckte in ihrem Etui unter seiner linken Achsel. Nach dem Erlebnis mit den Neonazis hatte sich der Detektiv entschlossen, von nun an die Waffe bei sich zu führen, obwohl er dabei kein wirklich gutes Gefühl hatte.
Trotz der hohen Temperaturen zog Shroud eine Jacke über, die aber weit geschnitten und sehr luftig verarbeitet war - schließlich konnte er die Schusswaffe nicht offen herumtragen.
„Mist!“ sagte er laut in die Stille seiner Wohnung hinein, als der Reißverschluss der Jacke hakte, und merkte erst dadurch, wie nervös er auf einmal geworden war. Die Ruhe und Kontrolliertheit von Gedanken und Gefühlen, die er bis gerade gespürt hatte, sie waren dahin. Adrenalin pumpte durch seinen Kreislauf, der Atem ging leicht keuchend, er schwitzte.
„Verdammt!“
Er nahm den Schlüssel vom Haken und verließ die Wohnung. Der Anrufer war Dave gewesen.
Endlich passierte etwas.
Er ging schnell um die Ecke und öffnete die Fahrertür seines Wagens. Es war ein Peugeot 406, ein viertüriges Coupé mit starkem Motor in einem bürgerlichen Gewand.
Nach den ermutigenden Erfahrungen der ersten beiden Fälle – er hatte sie gelöst, und die Klienten hatten prompt gezahlt - hatte Shroud sich entschieden, doch einen PKW anzuschaffen. Ihm war aufgefallen, dass viele Menschen in London einen Peugeot fuhren, und da das Auto ihm gefiel, hatte er sich beraten lassen und sich dann kurz entschlossen einen 406 gekauft, den der Händler mit guter Ausstattung auf dem Hof stehen gehabt hatte.
Das Auto musste schnell und wendig sein, durfte aber nicht, durch zu sportliches Ambiente etwa, auffallen.
Es musste unbemerkt einem anderen Wagen folgen können. Shroud fand seine Wahl optimal - es war ein schönes Auto, weinrot - metallic. Der Motor sprang spontan an und lief seidenweich im Leerlauf. Shroud tippte einige Werte in den Klimaautomaten. Sofort umschmeichelte ihn kühle Luft. Dann legte er den Gang ein, blinkte rechts und scherte in den fließenden Verkehr ein.
Autofahren in London war eine Kunst für sich und würde es immer bleiben. Shroud hatte sich sehr schnell die Illusion abschminken müssen, in dieser Weltstadt einen Parkplatz zu finden, wo er ihn gerade brauchte. Wenigstens zu Hause hatte er das Glück, dass – falls er keinen Platz vor der Tür finden würde, was die Regel war – bei einem Händler auf dem Hof parken konnte, der nur zwei Minuten zu Fuß entfernt sein Geschäft hatte.
Der Weg zur fotochemischen Firma führte ihn aus den Innenstadtbezirken heraus, und zunehmend wurde auch der Verkehr geordneter und lief flüssiger.
Shroud schaltete das Radio ein. Bruce Springsteen. Born in the USA.
Er schaltete ab.
Nach gut zwanzig Minuten und knapp ebenso viel Kilometern erreichte er die Firma und parkte auf dem mit dem Hinweis ‚nur für Gäste’ versehenen Teil des Geländes, nahe dem Eingang.
Shroud verschloss das Auto und ging hinein. Er wurde von Dave bereits erwartet, der ihm mit Verschwörermiene einen Zettel möglichst unverdächtig in die Tasche schieben wollte, dabei aber mit dem Arm an das Metall der Waffe stieß und erschrocken zurückfuhr. Die Dame in der Rezeption - sehr hübsch übrigens, blond und sehr gediegen - schaute verwundert zu ihnen herüber.
‚Idiot!’ dachte Shroud und sagte: „Danke.“
Er faltete den Zettel auseinander. Aus den Angaben ging hervor, dass der Kunde den Film gleich hier an der Rezeption abgegeben hatte, ohne den Umweg über einen Fotohändler gemacht zu haben. Ein Hausauftrag.
‚Um so besser.’
Der Betreffende würde hierher kommen und die Fotos abholen. Es musste bald geschehen, da es bereits Nachmittag geworden war. Für die Postzustellung blieb jedenfalls keine Zeit mehr.
Die Entführer wurden leichtsinnig, so interpretierte Shroud.
Einer von ihnen musste den Brief mit den Fotos und den Forderungen persönlich einwerfen, und dabei musste er davon ausgehen, dass er von der Polizei beobachtet werden würde.
So sicher konnte er sich doch nicht fühlen. Shroud hätte es anders gemacht.
Er ging zu dem Girlie und zückte unter warmem Lächeln seine Lizenz. Sie schien nur mäßig beeindruckt.
„Seien Sie so gut, meine Liebe, und geben mir ganz unauffällig einen Wink, wenn diese Fotos“ - er reichte ihr die Notiz mit Namen und Kundennummer – „gleich abgeholt werden.“
„Das werde ich bestimmt nicht tun, Sir“, sagte sie sehr ruhig. „Wir sind unseren Kunden gegenüber zur Diskretion verpflichtet, Sir.“
‚Verdammt!’ dachte Shroud und sagte: „Ich verstehe Ihr Argument, Miss, aber hier handelt es sich möglicherweise um ein Verbrechen, das ich aufklären möchte. Ihren Teil dazu könnten Sie tun, indem Sie mir den Wink geben. Bitte!“
„Da könnte ja jeder kommen“, sagte sie und blickte zu Gilbert, der sich bisher herausgehalten hatte. Sein stummes, zur Handlung herausforderndes Nicken in ihre Richtung schien sie allerdings nachdenklich zu machen.
„Ich rufe lieber die Polizei.“ Das klang schon recht schwach.
„Sehen Sie, Miss, die Polizei ermittelt bereits in dem Fall. Wenn der Kunde allerdings merkt, dass er von einem Polizisten verfolgt wird, tut er möglicherweise etwas, was nicht mehr berechenbar ist. Ein Menschenleben könnte dadurch in Gefahr geraten.“
Shroud war sich seiner Sache jetzt sicher.
„Also schön. Was soll ich tun?“
„Wenn der Kunde kommt - ob Mann oder Frau, das weiß ich nicht - geben Sie mir bitte ein Zeichen. Ich setze mich dort in einen Sessel und tue so, als ob ich etwas tue. Schieben Sie doch einfach die kleine Blumenvase dort etwas nach links, dann weiß ich Bescheid.“
„Gut, Sir“, sagte die Frau schließlich zögernd, „ich mache das.“
„Danke, meine Liebe, und bitte: keine Aufregung gegenüber dem Kunden. Der darf nämlich nichts merken!"
Shroud bat Dave um ein Glas Limonade aus der Kantine, bedankte sich und schickte ihn, der natürlich bleiben wollte, energisch zurück an seine Maschinen. Scheinbar emsig wühlte er in einigen Prospekten, die dort auf einem Tischchen lagen, und behielt gleichzeitig die Rezeption aus den Augenwinkeln heraus scharf im Blick.
Seine Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt. Es ging bereits auf siebzehn Uhr zu, Geschäftsschluss, als er endlich kam. Es war ein Mann von schätzungsweise vierzig Jahren mit gleichgültiger Allerweltsmiene. Der Mann bekam einen Umschlag mit den Fotos und zahlte in bar. Die Vase wurde verschoben, und Shroud ließ die Prospekte, die er bereits nahezu auswendig kannte, achtlos auf ihrem Platz liegen.
Im Hinausgehen warf er der jungen Frau eine Kusshand zu. Sie errötete allerdings nicht.
Der Mann stieg in einen Rover Vitesse und fuhr los. Shroud startete den Peugeot und reihte sich zwei Fahrzeuge dahinter in den Feierabendverkehr ein. Es war höllisch schwer in den dichten Autoschlangen, die durch die City strömten, den Kontakt zu halten. Es ging quer durch die Stadt bis hin zu den Wohnvierteln der Reichen und Privilegierten. Ganz wie Shroud vermutet hatte, musste der Mann seine Botschaft persönlich abgeben. Fast verlor er ihn in einem dreispurigen Roundabout, als dieser frech über alle Fahrbahnen schoss und eine Ausfahrt nahm, mit der Shroud nicht gerechnet hatte. Sie fuhren durch Belgravia und erreichten schließlich den Wohnsitz der McPhornems. Hier war so gut wie kein Verkehr mehr, und Shroud ließ den Peugeot so weit wie möglich zurückfallen.
Seine Nerven lagen allmählich blank, er schaltete nur noch mit ruckartigen Bewegungen, eine Hand immer so fest um das Lederlenkrad geschlossen, dass die Knöchel weiß hervortraten. Adrenalin, Adrenalin.
Der Wohnsitz der McPhornems war im Villenstil erbaut, mit Vorgarten, schmiedeeisernem Tor und hoher Hecke, wie ein solches Grundstück nun einmal aussah. Der Wagen fuhr an dem Anwesen vorbei, ganz so dumm schien der Mann doch nicht zu sein. Shroud fluchte. Hoffentlich verlor er ihn nicht. Zwei Blocks weiter hielt der Verfolgte am Straßenrand, die Roverlimousine schien aber nicht recht zu den Bentleys und Rolls zu passen, die in den Auffahrten der Häuser parkten.
Shroud sah nur britische Prunkautos. Nationalstolz reinster Prägung. Hoffentlich fiel der 406 nicht auf. Ein Junge, gar nicht so fein gekleidet, schlenderte auf dem Bürgersteig scheinbar zufällig zu dem Rover hin. Er mochte zwölf oder dreizehn Jahre alt sein. Ihm wurde ein brauner Umschlag aus dem Fenster gereicht. Shroud beobachtete dies von der nächsten Straßenecke, um die er gebogen war und wo der Peugeot mit laufendem Motor wartete.
Shroud durfte jetzt nicht den Anschluss verlieren. Die Polizisten, die sicherlich das Grundstück der McPhornems observierten, konnten nicht bis hierher sehen. Von ihm hing es ab, ob er eine Spur zum Unterschlupf der Entführer fand.
Während der Junge also langsam davon schlenderte, konzentrierte sich Shroud ganz auf den Mann im Rover. Dieser wartete dort noch einige Minuten, aus dem geöffneten Fenster drang Zigarettenrauch, dann wurde der Motor gestartet, und der Mann fuhr los. Er fuhr an der Straße vorbei, in die Shroud abgebogen war, so dass dieser erst wenden musste. So klein war der Peugeot nicht, und Shroud musste ordentlich rangieren, bis er herum war. Eine rote Ampel verhinderte, dass er den Rover doch noch verlor. Shroud hoffte, dass der Mann nun nicht doch noch misstrauisch werden würde und direkt zum Versteck der Entführer fuhr. Dass es mehrere sein mussten, war Shroud klar, denn irgendwer musste ja inzwischen auf den Jungen aufpassen.
‚Hoffentlich irre ich mich nicht’, dachte er in einem plötzlichen Anflug von Sorge. Es war bereits vorgekommen, dass das Opfer einer Entführung die Übergabe des Lösegeldes nicht mehr erlebt hatte. Aber diese Gedanken führten zu nichts, und Shroud konzentrierte sich auf die Verfolgung.
Es ging wieder durch Belgravia, in einem Bogen der Themse folgend an der City vorbei, über den Fluss auf die Isle of Dogs, im neuerbauten Dockland. Vor einem nicht als billig zu bezeichnenden Apartmenthaus hielt der Rover, dann fuhr der Mann den Wagen durch eine Hofeinfahrt und parkte ihn dort. Mit leichten Schritten und ohne sich umzusehen kam er schließlich zurück und ging schnurstracks auf den Hauseingang zu. Er holte einen anderen Schlüssel heraus und schloss die gläserne Eingangstür auf. Im selben Moment fuhr Shroud, der an einer Ecke gewartet hatte, ob der Verfolgte wieder auftauchte, hinter seinem Rücken vorbei. Glücklicherweise gab der Mann ein Signal mit der Wohnungsklingel, bevor er das Treppenhaus betrat. Shroud sah, auf welchen Knopf er gedrückt hatte, und fuhr weiter.
Er parkte den Wagen einige hundert Meter weiter rechtswidrig auf dem Gehweg und wartete fünf Minuten. Aus seinem Kofferraum nahm er eine Schirmmütze und eine Sonnenbrille, setzte beides auf und ging zurück zum
Hauseingang. Falls er vorher beobachtet worden war, würde er jetzt nicht mehr auffallen.
Auf dem Namensschild der Klingel stand Shreyer.
Shroud notierte es, nachdem er zum Wagen zurückgekehrt war. Jetzt ging es darum, sich Unterstützung zu beschaffen. Ein Alleingang kam für ihn nicht in Frage. Auf dem Grundstück der McPhornems würde er sicherlich hilfsbereite Polizisten finden.
Shroud grinste, das erste mal seit Stunden entspannte er sich. Er hatte seine Sache gut gemacht.
Fand er.
Ob in dem Haus in den Docklands auch der Junge war, war aber nicht so klar.

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KAPITEL VIER

Die Einfahrt war auf einer Strecke von fast fünf Metern vom Tor des Grundstücks her gesehen mit dichten Büschen bestanden. Dieser natürliche Schlauch verhinderte, dass man von der Straße kommend mehr vom Haus sehen konnte als das große Portal. Vom Haus aus wiederum war die Straße nur von einem der obersten Fenster aus zu erblicken, und hier auch nur die gegenüberliegende Bordsteinseite.
Die Polizisten hockten deswegen in den Büschen.
Shroud erfuhr davon, als er auf halbem Wege durch die Gasse plötzlich rüde gepackt wurde. Schneller, als er reagieren konnte, wurde er zu Boden gerissen, Handschellen schnappten schmerzhaft um seine Gelenke, und irgend jemand drückte sein Gesicht hart auf den Asphalt.
„Verdammt...“, quetschte er hervor, es half nichts. „Los, ins Haus mit dem Kerl, los, los!“
Shroud wurde hochgerissen und mehr geschleift, als er gehen konnte. Gesicht, Hände und Brust schmerzten heftig.
Hinein ging es durch eine kleine, seitlich des Portals liegende Tür, direkt in einen Raum, der, soweit Shroud in seiner Zwangslage sehen konnte, von fünf weiteren Männern gefüllt war.
„Was zum...?“ Die Stimme kam von demjenigen, der als einziger von den Fünfen gesessen hatte. Beim Eintritt der Gruppe war er jedoch aufgesprungen.
„Was ist denn jetzt los?“
Die Stimme klang erschrocken, aber keinesfalls ärgerlich. Auch Shroud hatte noch keine Gelegenheit gehabt, wütend zu werden. Alles war viel zu schnell gegangen.
„Den Kerl haben wir draußen gestellt, als er gerade die Einfahrt durchqueren wollte. Er war bewaffnet, Sir.“
Shroud hatte nicht mitbekommen, dass er seine Beretta längst quitt geworden war, jetzt wurde sie von einem seiner Angreifer, die, wie er jetzt sehen konnte, eine Art schwarzer Kampfmontur trugen, auf den Tisch in der Mitte des Raumes gelegt.
„Verdammt“, knurrte Shroud. Langsam stieg die Wut in ihm hoch, aufgepeitscht noch durch den Schmerz, der die Überraschung ablöste.
„Würdet ihr mich vielleicht mal loslassen?“
„Du hälst dein Maul, Bursche!“
Ein derber Stoß in die Seite unterstützte des Mannes Aussage.
„Setzen Sie ihn da auf den Stuhl.“
Die Stimme des Mannes, der hier offenbar die Aktionen leitete, war jetzt leise geworden, gefährlich leise sogar, aber das konnte Shroud in seiner Situation nicht registrieren. Unsanft wurde er auf das Möbel gedrückt, die gefesselten Hände wurden gegen die Holzlehne gepresst.
„Au!“
„Sergeant!“ Plötzlich explodierte der Vorgesetzte.
„Was zur Hölle Namen glauben Sie, wo Sie hier sind, verflucht noch einmal! Dies ist kein Korps der Special Forces, Sie Schwachkopf! Innerhalb von drei Sekunden ist dieser Mann frei, oder Sie schieben ab morgen Ihren Dienst am Zebrastreifen vor Victoria Station, ist das klar?“
„Jawohl, Sir!“
Der Mann stand eingeschüchtert still. Ein anderer der Kampftruppe nahm einen Schlüssel aus der Tasche und ließ die Handschellen aufschnappen. Shroud rieb sich die schmerzenden Hände. Er musste sich sehr beherrschen, um dem brutalen Sergeant nicht an die Kehle zu springen. Sich bei dem Vorgesetzten zu bedanken, fiel ihm nicht ein.
„Ich will sofort Mrs. McPhornem sprechen!“
Er griff nach seiner Waffe, doch der Sergeant stieß ihn in den Stuhl zurück. „Verdammt noch einmal“, wandte er sich an den Vorgesetzten, „halten Sie Ihren Kettenhund zurück, oder ich drehe ihm das Gesicht auf den Rücken!“
Shroud versuchte noch einmal, aufzustehen, und wieder kam der Arm des Sergeants vorgeschossen. Diesmal war Shroud darauf vorbereitet, er packte das Handgelenk und riss mit der anderen Hand den Daumen des Polizisten heftig nach hinten, dass dieser vor Schmerz aufheulte. Sofort wurde er von drei Männern gepackt und nach hinten gerissen.
„Jetzt reicht es, alle!“ donnerte der Vorgesetzte.
„Lasst den Mann los! Und Sie“, wandte er sich an Shroud, „bleiben verdammt noch einmal hier, bis ich mit Ihnen fertig bin! Ist das klar?“
Shroud hatte nichts weniger vor, als sich einschüchtern zu lassen, aber er beugte sich der Gewalt der Überzahl.
„Ich bin ...“, begann er und wurde prompt unterbrochen. „Shroud, wissen wir“, sagte der Beamte.
„Ich arbeite ...“, versuchte es Shroud noch einmal.
„... als Privatdetektiv, wissen wir auch.“
Shroud knurrte. Der Polizist wusste eine Menge über ihn. Shroud nahm an, dass die Informationen von Mrs. McPhornem kamen - von wem auch sonst?
“Mein Name ist Metcalfe, Chief Inspector Michael Peter Metcalfe, Metro Police Force, Scotland Yard.”
Shroud nützte die Gelegenheit und fasste sein Gegenüber zum ersten mal richtig ins Auge. Die Männer hatten ihn losgelassen, und er verzichtete einstweilen auf weitere Versuche, sich zu erheben oder nach seiner Waffe zu greifen. Urplötzlich war er inmitten der Brutalität seines Berufes. Dass er diese erste Bekanntschaft mit all dem der Polizei zu verdanken haben würde, hätte er jedoch nicht gedacht.
Metcalfe war ein sehniger Mann von Mitte vierzig, das Gesicht glatt rasiert, die Frisur ordentlich gescheitelt. Das Haar war aschblond und sehr voll. Die Züge des Polizeioffiziers waren streng und herrschsüchtig, vor allem die Augen blickten starr und funkelnd, als wolle er mit ihnen hypnotische Wirkung erzielen. Schmale Lippen und ein spitzes Kinn unterstrichen diesen Ausdruck noch.
Shroud fragte sich, ob der Mann überhaupt lachen konnte.
Metcalfe trug einen einreihigen Anzug, der perfekt saß. Nicht einmal die nervigen Schultern oder die muskulösen Oberarme beulten ihn aus. Dieser Mann war gefährlich, das fiel Shroud sofort auf. Einschüchtern ließ er sich aber trotzdem nicht.
‚Keine Chance’, dachte er.
„Ich will sofort mit Mrs. McPhornem sprechen. Sie hat mich engagiert, ihr gebe ich Auskunft.“
„Dass die Leute immer denken, die Polizei sei zu dumm für Ermittlungen“, seufzte Metcalfe leise.
„Zunächst einmal stehen Sie mir Rede und Antwort, Freundchen! Wir haben beobachtet, dass Sie vor einer Weile hier vorbeigefahren sind. Was hat es damit auf sich?“
„Wenn Sie glauben, dass ich Ihnen auch nur das Geringste erzähle, haben Sie einen verdammt feuchten Hut auf.“
Shroud sah Metcalfe kühn in die Augen. Trotz und Wut beherrschten sein Handeln.
„Wissen Sie, dass es verdammt leicht ist, eine Schnüfflerlizenz einziehen zu lassen?“
„Wissen Sie, dass es verdammt leicht ist, Cops wegen Körperverletzung zu verklagen?“ konterte Shroud.
Die Stimmung im Raum näherte sich erneut dem Siedepunkt. Shroud war wirklich bedient.
„Alle raus hier!“
Metcalfes Stimme war ruhig und beherrscht, aber ihr Klang bewirkte, dass er zehn Sekunden später allein mit Shroud in dem Zimmer war. Er setzte sich gegenüber dem Stuhl auf den Tisch und stützte sich mit den Händen ab.
„Okay, Mr Shroud“, sagte er, „Sie sind nicht korrekt behandelt worden. Allerdings sieht es so aus, als behinderten Sie die Arbeit der Polizei. Jemand, der noch so neu in seinem Beruf ist, sollte sich vielleicht etwas mehr zurückhalten. Zumal“, fügte Metcalfe hinzu, „als geduldeter Ausländer.“
Metcalfe hatte ihn wohl von seiner Dienststelle durchleuten lassen.
„Sie haben es nötig. Sie wissen offenbar sehr gut, mit wem Sie es hier zu tun haben, behandeln mich aber wie den leibhaftigen Staatsfeind Nummer eins. Ich wiederhole: Rufen Sie Mrs. McPhornem! Ihnen habe ich nichts zu sagen. Und ja: geben Sie mir die Pistole wieder!“
„So kommen wir nicht weiter, Mr Shroud. Aber das macht auch nichts. Nötigenfalls nehme ich Sie mit aufs Revier, und dort unterhalten wir uns in netter Form so lange, bis ich weiß, woran ich mit Ihnen bin.“
„Machen Sie sich nicht lächerlich, Metcalfe“, konterte Shroud.
„Sie haben bestimmt keine Zeit, um mit irgend jemandem ‚in netter Form’ ein Gespräch zu führen. Die Kidnapper sitzen Ihnen im Nacken, und Sie versuchen durch Ihre coole Tour, mich kirre zu machen. Ich sage Ihnen nur eines: Holen Sie Mrs. McPhornem, und dann erfahren Sie vielleicht, wo die Entführer sitzen.“
Metcalfe sprang auf. „Sie wissen...?“
„Sie haben doch beobachtet, wie ich hier vorbeifuhr. Merkwürdig, dass Sie nicht mitbekommen haben, dass ich einen anderen Wagen verfolgt habe.“
Metcalfes Züge verhärteten sich noch einmal. Er überlegte kurz, dann sagte er nur: "Okay, Cowboy."
Er ging zur Tür und rief einen anderen Polizisten in Zivil, mit dem er hastig einige Sätze wechselte. Dann rief er die Männer seines Einsatzkommandos wieder herein.
„Woher wollen Sie wissen, wo der Junge fest gehalten wird, Mr Shroud?“
Der junge Detektiv überlegte einen Augenblick, dann entschloss er sich zu antworten.
„Die Fotos. Ich habe Verbindungen zum Werk, wo die Fotos entwickelt wurden.“
Wieder sprach Metcalfe leise mit dem anderen in Zivil. Shroud hörte nur wenige Satzfetzen des Gesprächs, unter anderem hielt Metcalfes Kollege die Chance, über die Entwicklung der Bilder auf die Entführer zu kommen, wohl für ‚gerade noch statistisch’, wie er sich ausdrückte. ‚Soviel zur Statistik’, dachte Shroud befriedigt.
Metcalfe schien hingegen keineswegs zufrieden zu sein, denn abrupt wandte er sich ab, gab dem Sergeant einen Wink und verließ mit seinen Männern den Raum. Shroud war allein. Er nutzte die Zeit, die schmerzenden Gelenke zu massieren, die Blutergüsse, die sich bildeten, zu begutachten, die Schürfwunden zu betasten und seinen Ärger weiter unter Kontrolle zu bringen. Auch nahm er die Waffe wieder an sich und schob sie ins Halfter.
Plötzlich hörte er vom Nebenraum her erregte Stimmen. Neugierig stand er auf, ging etwas näher an die geschlossene Tür und horchte.
„Was heißt hier Fahndungspannen?“, schallte die wütende Stimme des Chief Inspectors durch das getäfelte Holz der Schwingtür, „Sie sind wohl nicht zu retten! Wissen Sie, was der Commissioner mit uns macht, wenn dem Jungen etwas passiert? Und Sie sprechen von Fahndungspannen?“
„Aber Sir“, das war die eingeschüchterte Stimme des Zivilbeamten, „Sie wissen doch, dass bei noch so großer Sorgfalt nicht immer alles nach Plan verläuft. Zu viele Unwägbarkeiten.“
„Aber wir haben noch den Yankee.“ Das war der Sergeant. „Ich kann ihn unter Druck setzen, dann wird er sehr schnell alles ausspucken, was er weiß, ich kriege das hin, Sir."
„Sergeant, wenn Sie noch einmal solchen Unsinn reden, wird der Commissioner Ihnen garantiert nichts tun", sagte Metcalfe leise, so dass Shroud es kaum hören konnte, um dann schneidend fortzufahren: „Dann werde ich Sie nämlich persönlich dermaßen fertigmachen, dass Sie denken, Sie wären Rekrut im ersten Jahr! Sie Vollidiot!"
Shroud musste beinahe grinsen, seine Position war offenbar gar nicht so übel. Beruhigt, ja, beinahe gelassen ging er zurück zu seinem Stuhl und setzte sich hin. Kurz darauf kamen auch die Polizisten zurück, der Sergeant mit hochrotem Kopf. Shroud erlaubte sich ein sarkastisches Schmunzeln.
„Was gibt es da zu grinsen, verdammt?“ fuhr der Chief Inspector ihn an, „glauben Sie nicht, ich wäre schon fertig mit Ihnen!“
„Wenn ich stehen würde“, erwiderte Shroud frech, „würden mir jetzt die Knie zittern.“
Metcalfe zerquetschte einen Fluch zwischen den Lippen. Er beließ es bei einem zornigen Blick, wandte sich um und wollte den Raum verlassen.
„Metcalfe!“
Der Polizist drehte sich um.
"Nennen Sie mich nie wieder Cowboy!" Wortlos verschwanden die Polizisten erneut.
Durch diesen lächerlichen Zwischenfall war sehr viel Zeit verloren gegangen. Shroud kannte die Forderungen der Entführer nicht, er wusste nur, dass jetzt etwas unternommen werden musste, jetzt sofort. Um die Kidnapper zu stellen und den Jungen zu befreien, musste Shroud auf die Hilfe des Inspectors zurückgreifen, das war ihm klar. Bis dahin wollte er seinen Ärger zurückstellen. Was weiter geschehen sollte, würde er später entscheiden. Angesichts seiner verschmutzten Kleidung und der Schürfwunden im Gesicht hatte er die größte Lust, gleich den ganzen Haufen zu verklagen.
‚Okay’, dachte er, ‚später.’
Er stand auf und reckte die Glieder etwas.
Und harrte der Dinge, die da kommen mochten.

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KAPITEL FÜNF

„Wir beide sind noch nicht fertig miteinander.“
Der leidenschaftslose Klang in der Stimme des Polizisten verhieß nichts gutes. Chief Insp. Michael Peter Metcalfe drohte nicht etwa, trotzdem hatten seine Worte etwas verdammt endgültiges. Indes war Shroud nicht gewillt, sich so schnell von der Staatsmacht übervorteilen zu lassen. Er meinte, sich eine gewisse Sturheit leisten zu können. Immerhin war dies sein erster großer Fall, und die Polizei war in gewisser Hinsicht von seinen Auskünften abhängig. All dies, zusätzlich zu seiner immer noch nicht erloschenen Wut, warf er in die Waagschale. Er wollte dabei sein!
„Sie können es drehen und wenden wie Sie wollen“, sagte er ruhig, „entweder eine schnelle Aktion mit mir oder keine Aktion.“
„Sie sind sich darüber im klaren, dass Sie das Leben des Jungen möglicherweise aufs äußerste gefährden?“
„Sie geben wohl nie auf! Aber es bleibt dabei!“
„Sind Sie jetzt bald fertig?“
Sir Myerson McPhornem meldete sich zu Wort.
"Ihr Kompetenzgerangel habe ich mir jetzt lange genug mit angesehen. Wenn meinem Sohn dadurch auch nur das geringste zustößt, werden Sie beide und keiner von Ihrer Truppe jemals wieder mehr als einen Ladendiebstahl untersuchen. Also?“
Metcalfe blickte von McPhornem zu Shroud und von Shroud zu McPhornem. Er schien innerlich mit sich zu ringen, schließlich gehörte dies alles in den Bereich seiner Verantwortung.
Wenn bei einem von ihm geleiteten Einsatz ein Zivilist, dazu noch ein Ausländer und ausgerechnet ein Amerikaner, verletzt oder womöglich getötet wurde, würde er den vielen Verbrechern, die er in seinen knapp zwanzig Dienstjahren als Detective hinter Gitter gebracht hatte, bald Gesellschaft leisten.
Metcalfe entschied sich.
„Okay, Yankee.“ Shroud war es echt leid.
„Na endlich, Whig!“ Metcalfe erstarrte, auch McPhornem schluckte schwer. Langsam drehte der sehnige Polizist sich um.
„Bitte nehmen Sie zur Kenntnis, Sir“, sagte er mit vibrierender Stimme, „dass ich gebürtiger Schotte bin.“
„Und bitte nehmen Sie zur Kenntnis, Sir“, reagierte Shroud unmittelbar, „dass ich als Mensch geboren wurde!“
Abrupt wandte sich Metcalfe ab und sprach zu seinen Männern. Schließlich gab er den Befehl zum Aufbruch. Eine Karte hatte er noch im Ärmel, eine übel gezinkte Karte zwar, aber egal: er war gewillt, sie auszuspielen.
Und Shroud? Er konnte vor Aufregung keinen klaren Gedanken fassen, versuchte aber krampfhaft, seine Erregung zu beherrschen. So gingen sie hinaus, alle, die Beamten und der Detektiv.
Zurück blieb ein ängstliches Ehepaar, das nun in aller Einsamkeit ausharren musste bis zum Ende.
Und dies war Metcalfes Plan: Anschleichen, reingehen und zuschlagen. Der Plan war brillant wegen seiner Einfachheit. Ansonsten ...
Fünfundzwanzig Minuten später waren rund um das Apartmenthaus auf der Isle of Dogs über zwanzig Männer, Nahkampfspezialisten genauso wie Scharfschützen, in Stellung gegangen. Im Eingang standen geduckt Metcalfe und der ungeliebte Sergeant.
Die Stimmung war gereizt, aber diszipliniert. Jetzt spielte Metcalfe seine Karte aus. Plötzlich warfen sich drei Mann auf den jungen Amerikaner, nahmen ihn in einen eisernen Griff und schleiften ihn in Sekunden in die Hofeinfahrt, die zu dem Gebäudekomplex gehörte. Der Privatdetektiv war buchstäblich in die Fänge des Systems geraten, alles Toben und Wüten nutzte nichts. Metcalfe warf ihm einen kalten Blick zu, dann zog er seine Waffe und verschwand mit den anderen.
Und dann...

 

*

 

Dieser Bastard!
Er hatte mich gelinkt, und zwar kräftig. Ich hatte für sie die Drecksarbeit gemacht, ihr Versagen ausgebügelt - und zum Dank stand ich hier, an die kalte Mauer gepresst, drei Mann an meinen Knochen, und fühlte mich wie in einem Schraubstock. Kaum dass ich atmen konnte, so fest hielten die Kerle mich am Wickel. Ich war voll auf diesen Metcalfe reingefallen, hatte ihn brav zu den Entführern gebracht und mich von ihm verarschen lassen.
Der hatte bloß seine Regeln im Kopf, Gesetz und Ordnung.
Verdammtes Spießerschwein!
Plötzlich heulte ein Motor auf, ganz nah, hier im Hinterhof. Es hörte sich an wie ein kehliges Blubbern und Brummen, gefolgt von in Überlastung durchdrehenden, schrill quietschenden Reifen. Die Polizisten, die mich festhielten, ließen in ihrer Konzentration nach und blickten in die Richtung der kakophonischen Klänge. Dadurch hatte auch ich ein kleines bisschen Luft und konnte dorthin schauen. Die Hofeinfahrt, in der ich mit den Kerlen stand, war etwa sechs Meter lang, ein kurzer Tunnel in dem Häuserblock, hinten waren Garagen. Dorther, gerade jetzt erst zu sehen, brach schlingernd, aufbrüllend und kreischend, ein Van, ein Chrysler Voyager, hervor, nahm viel zu schnell die Kurve in die Einfahrt und krachte Funken schlagend und Lack sprühend gegen die rau verputzte Wand. Am Steuer saß der Kerl, den ich hierher verfolgt hatte. Offenbar hatten die Entführer mehr als ein Auto. Und offenbar hatten Metcalfe und seine Männer wieder ihren Job versaut. Irgendeiner der Entführer hatte sie gesehen, es gab keine andere Erklärung.
Die Männer, die mich hier festhielten, reagierten schnell - ich war frei. Während das tonnenschwere Monstrum wie das sprichwörtliche Inferno auf uns zudonnerte, hechtete ich aus der Einfahrt heraus, um die Ecke und in Sicherheit, mit mir zwei Beamte.
Nur zwei?
Da knallte ein Schuss, dann hörte ich ein hässliches, schmatzendes Geräusch, einen schrillen Schrei und ein lautes Krachen, als der Van wieder in die Wand der Durchfahrt schmetterte, den Uniformierten, der lieber seine Waffe gezogen hatte als sich in Sicherheit zu bringen, zwischen Blech und Stein zerquetschend.
So brach der Wagen hervor, eine Wolke von Gesteinsbrocken, Metallfragmenten, Lackschichten und Blutspritzern vor sich her spritzend. Die Frontscheibe war zersplittert, überzogen von einem Spinnennetz feiner und feinster Risse, ob von der Kugel des armen Polizisten oder von dem Crash, wer konnte das noch sagen? Die Stoßstange vorne rechts, der Kotflügel und die Fahrertür ware eingedrückt, deformiert, zermalmt, der Vorderreifen geplatzt - der Chrysler kam zum Stehen, als er zwei am Straßenrand parkende Autos als Rammbock missbrauchte. Das blökende Lärmen der defekten Hupe setzte den höllischen Lärm ununterbrochen fort, wie ein anhaltender mechanischer Todesschrei. Dieser Van fuhr nirgendwo mehr hin.
Aus der Fahrerkabine, die auf einen Bruchteil ihres Volumens zusammengepresst worden war, kam keiner mehr lebendig raus. Anders als aus dem Laderaum, dessen Hecktüren plötzlich mit Wucht aufgestoßen wurden. Heraus aus dem Dunkel sprangen zwei Männer und eine Frau - und der McPhornem - Junge, den die Frau am Kragen gepackt hat und hinter sich her schleifte wie einen Sack Kartoffeln. Das Kind bot einen herzzerreissenden Anblick, aber es war am Leben.
Noch.
Die Entführer hielten Waffen schussbereit, ein Mann eine Uzi, der andere eine kurze doppelläufige Schrotflinte, die Frau war mit dem Jungen mehr als ausgelastet.
Alle waren offensichtlich zum äußersten bereit. Sahen sie nicht, dass sie keine Chance mehr hatten? Metcalfe stand auf dem Bürgersteig, die Dienstwaffe mit beiden Händen umfasst, und suchte sein Ziel. Die Frau hatte den Jungen an sich heran gezogen und nutzte ihn so als Schild. Der Kerl mit der Flinte sah den Chief Inspector und riss die Flinte hoch. Ich handelte instinktiv. Längst hatte auch ich meine Waffe gezogen und richtete sie auf den Entführer. Ich hatte keine Sympathien für den Polizisten, aber noch viel weniger für den Entführer. Alles spielte sich auf engstem Raum ab. Ich war im Ziel und drückte ab.
Nichts als ein scharfes Klicken ertönte.
Oh Mann!
Der beschissene Sergeant hatte die Kugeln aus dem Magazin entnommen.
Und ich Vollidiot hatte das nicht kontrolliert!
Wie der Entführer mit dem Schrotgewehr meine Aktion bemerkt hatte, ob er die Bewegung gesehen hatte, ich wusste es nicht. Jedenfalls war ich nun plötzlich das Ziel der abgesägten Läufe. Alles ging so schnell, ich hatte noch nicht einmal Angst, starrte nur in die schwarzen Mündungen des Gewehrs.
Dann knallte der Schuss, aber es war der Entführer mit der Flinte, der mit zerschmettertem Schädel gegen meine Beine stürzte, meine Hose mit seinem Blut und Gehirn besudelte. Metcalfe hatte präzise reagiert. Anstatt dass ich ihn rettete, hatte er nun mich gerettet. Oder jeder den anderen ein bisschen. Ich wankte zurück, weg von dem Toten. Plötzlich überkam mich eine unglaubliche Schwäche, ich konnte mich nicht mehr auf den Beinen halten und sank an einem parkenden Auto zu Boden ...

 

*

 

Der Träger der Schrotflinte war der nicht letzte Tote. Der andere Mann, der mit der Uzi, wurde von den Scharfschützen erledigt, zwei Kugeln trafen ins Herz und er starb augenblicklich. Die Frau erlitt vom wuchtigen Kolbenhieb des Sergeants, der wie aus dem Nichts hinter ihr auftauchte, einen Schädelbruch und wurde mit einem Krankenwagen ins nächste Hospital verbracht. Dort erlag sie wenig später ihren schweren Verletzungen.
Wie ein klagendes Signalhorn tönte über allem der Klang der Hupe des zerstörten Vans.
Sehr schnell waren Ambulanzen da, brachten Verbände und Medikamente für die Verletzten und Zinksärge für die Getöteten. Die Leichen der Entführer kamen in die Särge, so wie der überfahrene Polizist.
Der Junge, zerschrammt und zerbeult und mit einem großen Schock, war am Leben. So wurde eine Aktion mit fünf Toten zu einem erfolgreichen Einsatz. Ruhig, beinahe stoisch, stand Chief Inspector Metcalfe da und organisierte das Chaos umherhastender Menschen. Zuvor hatte er sich die Zeit genommen, Shroud, dem jungen Detektiv, der beherzt eingegriffen hatte, als es nötig war, stumm die Hand auf die Schulter zu legen. Er hatte sich damit gleichermaßen entschuldigt und bedankt, und ein Blick zwischen den beiden so ungleichen Männern hatte ihr Verhältnis zueinander bereinigt.
Und Shroud?
Der saß, als er nun langsam das Ausmaß dieser Tragödie begriff, zusammen gesunken auf dem Bürgersteig und heulte Rotz und Wasser. Dabei murmelte er immer wieder nur ein Wort:
„Scheiße!"

 

Ende des Auszugs

 


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