Shroud - Überall und nirgends

Blutmond

 

Ich stöberte gerne in Vincents kleinem Laden. Dieser befand sich seit etwas über eineinhalb Jahren in der Stockwell Street in Greenwich, nicht weit von Spread Eagle Yard, wo früher die Kutschen hielten und heute ein Second-Hand - Shop alles mögliche von alt und schäbig bis antik und unbezahlbar verkaufte, vorausgesetzt, es handelte sich um Bücher.
Vincents Geschäft war etwas ganz besonderes, eine Art Panoptikum, in dem er allerlei seltsames Zeug feilbot: Gefäße aus Bronze, Porzellan, Steingut, Kristall, Schnitzereien aus Südamerika bis Afrika, Kultgegenstände  von Indios bis Sumerern, Skulpturen von Wesenheiten dieser und anderer Welten und Hieb- und Stichwaffen in jeder Form, Größe und Beschaffenheit. Dazu kamen Pläne, Bilder und Karten, Ketten, Anhänger und Ringe, Schriftrollen, Skripte und Folianten, und die größte Kuriosität in diesem Kabinett war womöglich Vincent selbst.
Normalerweise stand er, nahezu bewegungslos und wie in sich selbst versunken, hinter der schweren Theke aus Mahagoni, den schlanken, ja hageren Leib etwas vornübergebeugt, die Arme vor der schmächtigen Brust gekreuzt, und blickte dennoch auf einen herab, denn er war gut über zwei Meter groß. Er war üblicherweise gekleidet in rohe Stoffe, geschnitten nach einer Mode, die auch in einer Zeit, die immer mal wieder Vergangenes zur Moderne erklärt, altmodisch war, vornehmlich in dunklen Tönen von Braun, Grau, Blau oder mattem Schwarz gehalten. Schwarz waren auch seine Augen, deren durchdringender Blick vor den Toren der Seele selbst erst Halt zu machen schien. Fahlweiß dagegen war die Nase, schmal, ja scharf dazu und ungewöhnlich spitz, unterstrichen von Lippen, blassrot und blutleer, wie es schien, die mehr der Schneide einer kleinen Klinge ähnelten, geschlossen einem Taschenmesser und zu seiner Art des Lächelns geöffnet einem Krummdolch.
Mit einem Wort: Vincent und sein Laden waren ein einziger Anachronismus in einer Welt, die dem Fortschritt um seiner selbst willen huldigte, die immer mehr auf Schnelligkeit und Masse statt Klasse setzte. Ich wunderte mich jedesmal, wenn ich ihn besuchte, darüber, welch seltsame Blüten das Leben doch noch hervorbringen konnte.

Diese hier war wie eine Ausgeburt eines makabren Nachtmahrs.
Vincent war also da, dort in Greenwich in seinem Laden, und verkaufte den ganzen Trödel, den er weiß Gott wo aufgetrieben hatte, je nach Art und Laune seiner Besucher mal spottbillig, mal sündhaft teuer. Auch ich hatte bereits eine Menge Geld in seinem Etablissement, wie er selbst das Geschäft zu nennen pflegte, gelassen, aber nie das Gefühl gehabt, für ein schönes Stück einen unangemessenen Preis bezahlt zu haben, es sei denn einen unangemessen niedrigen. So schmückten einige seiner Waren jetzt meine vier Wände, und sie gaben meiner Wohnung eine Atmosphäre, die ich selber nicht zu beschreiben in der Lage war, die mich jedoch faszinierte: eine Karte der Welt, wie sie die Engländer gesehen hatten, als sie mit ihren Galeonen die Meere beherrschten; eine kunstvolle Schnitzerei aus der Südsee, die den Kopf eines Dämons nachbildete, dessen Hauptbeschäftigung das Lachen gewesen sein musste; ein Schmuckgehänge aus grünlichem Kupfer und schwärzlichem Silber, dessen filigrane, fragil wirkende Glieder die Schmiedekunst der alten Gälen demonstrierte; schließlich ein Katana, ein prächtiges Samuraischwert, fehlerlos geschliffen aus bestem, vielfach gefalteten Stahl in einer Scheide aus Bambus, der Griff verziert mit herrlichen Karneolsteinen, in wunderbarer Tropfenform, die fast wie geronnenes Blut wirkten.
Ich besuchte Vincent oft in seinem Laden, sehr oft in diesem Herbst, der spät gekommen war und immer noch milde Tage hatte, voller Sonnenschein, dessen Nächte jedoch sternenklar und kühl waren. Wie gewöhnlich war es früher Abend, als ich die Straße zu Vincents Panoptikum hinunterlief auf meinem Weg vom Greenwich Pier, dem King William Walk folgend, durch die Nelson Road die Greenwich Church Street erreichend, deren Verlängerung die Stockwell Street war, wo mein Ziel lag. Die Sonne war bereits hinter den historischen Bauten versunken, und schon jetzt hing ein bleicher Vollmond über der Themse, von dünnen Wolkenschleiern blutrot gefärbt. Es war ein unheimlicher Anblick. Fröstelnd zog ich den Reißverschluss der weiten Jeansjacke bis oben zu, dabei spürte ich einmal mehr das hohe Gewicht der Waffe in meinem Schulterhalfter. Die beiden Automatikpistolen vom Typ Sig Sauer hatte ich einem Büchsenmacher gegeben, damit er gewisse Modifikationen daran vornehmen konnte, von denen ich mir ein besseres Handling versprach. Da ich nie unbewaffnet meine Wohnung verließ, hatte ich mich, wenn auch ungern, für die Ruger Double Action entschieden, einen Revolver vom Kaliber .357 Magnum, der über drei Kilo wog und an meinem Halfter zerrte wie ein bissiger Wachhund an seiner Leine. Es war äußerst unangenehm, aber ohne Waffe fühlte ich mich einfach nicht sicher – vielleicht paranoid, aber ich hatte diese Lektion unter Schmerzen lernen müssen. Als Privatdetektiv hat man Feinde, besonders, wenn man so unverfroren seine Nase in anderer Leute Angelegenheiten steckte, wie ich das zum Vorteile meiner Klienten zu tun pflegte.
Da erreichte ich Vincents Laden, aus dessen bleigefassten Butzenscheiben gelbes Licht auf die Straße fiel und das Muster der Fassungen auf den Asphalt warf. Ich griff nach der schmiedeeisernen Türklinke, drückte sie hinab – die Tür war verschlossen.
Das war ungewöhnlich, war es doch erst kurz nach sieben Uhr abends. Gewöhnlich hielt Vincent sein Etablissement bis neun auf. Ich beugte mich vor, und durch das milchige Glas in der schweren, massivhölzernen, eisenbeschlagenen Tür sah ich hektische Bewegungen im Innern des Ladens, als ob ein Mann, der mir von draussen wie ein Schemen erschien, in hoher Eile durch die Gänge des Raumes schritt, der in seinen wuchtigen Regalen all die kleinen und großen Kostbarkeiten barg, die ich so schätzte.
Mehr noch als die Waren schätzte ich jedoch Vincent selber, der eine Persönlichkeit war, die mich immer aufs neue überraschte ob ihrer charakterlichen Tiefe und hohen Bildung. Vincent kannte Bücher nahezu auswendig, von denen ich mir mit Mühe den Titel merken konnte, und er war ein lebender Zitatenschatz. Auch wenn er seine Stücke geschäftsmäßig vertrieb, einen leckeren Tee und ein freundliches Gespräch gab es immer kostenfrei, auch wenn ich einmal nichts mitnahm.
Kurz entschlossen klopfte ich gegen die Scheibe, denn ich hatte plötzlich das Gefühl, dass irgendetwas dort drinnen absolut nicht stimmte. Das schmenhafte Abbild des Mannes, der dort umhergehastet war, schien auf der Stelle zu verharren wie ein furchtsames Kind, das von einem Donnerschlag auf offenem Feld überrascht worden war. Zögernd dann, nachdem ich erneut geklopft hatte, näherte die Gestalt sich der Tür, ein Schlüssel drehte klackend sich im Schloß, und dann sah ich Vincent durch einen kleinen Spalt, wie er ungehalten auf mich niedersah. Als er mich erkannte, hellten sich die Züge in dem asketischen Gesicht etwas auf, doch konnte mir das Abbild tiefer Trauer in dem Antlitz nicht entgehen.
„Vincent?“ fragte ich und legte meine spontane Anteilnahme in seinen Namen hinein.
„Shroud“, kam die Antwort, langsam, zurückhaltend, wie unangenehm überrascht.
„Was ist denn los? Sonst hast du um diese Zeit doch immer noch auf.“
„Tja, heute ist es anders.“
In seinem Gesicht waren schwere Sorgenfalten eingegraben, und das schüttere, aschblonde Haar hing wirr von seinem hohen Kopf.
„Ist irgendetwas passiert?“
Er antwortete nicht, sah mich stattdessen lange, wie prüfend an, schließlich trat er zurück und öffnete mir die Tür. Ich trat ein und blieb noch auf der Schwelle wie angewurzelt stehen. Durch den Luftzug von draußen flackerten die Kerzen, die allein den Raum erhellten, und Schatten tanzten drohend auf mich zu. Viel mehr erschreckten mich jedoch die Bilder, die vielen Bilder, es mussten Dutzende sein, von Sarah, die überall im Raum verteilt waren. An der Wand hingen sie, an den Regalen, auf ihren Brettern standen sie, auf der Theke, auf dem Boden sogar, Dutzende Bilder von Sarah.
Sarah Reading, die eine junge, sympathische, ausnehmend hübsche Frau war, knapp einssiebzig groß, gertenschlank und weiblich, mit langem, den schönen Körper in weichen Wellen umfließendem kastanienbraunem Haar, großen rehbraunen Augen und dem reizendsten Lächeln der Welt, sie sah schmunzelnd, ernst, überrascht, melancholisch und mit vielen anderen Gesichtsausdrücken von den Bildern zu mir her.
Mühsam riss ich mich los von diesen Portraits. Sarah arbeitete für Vincent, schon seit ich das erste Mal vor knapp einem Jahr hier gewesen war, sie war Verkäuferin, Geschäftsführerin, Buchhalterin und die gute Seele des Panoptikums. Vincent verehrte sie sehr auf die ihm eigene, stille Art, immer nur von fern, denn sich ihr zu nähern hätte er nie gewagt. Auch auf mich hatte Sarah immer nur den besten Eindruck gemacht, sie war stets freundlich, immer zu Scherzen aufgelegt, immer lachend und bildete so einen wunderbaren Kontrast zu der manchmal unheimlichen Atmosphäre des Ladens. Auch wegen ihr war ich immer gerne hierher gekommen.
„Vincent?“
„Sarah“, sagte er leise, und ein tonnenschweres Gewicht schien ihn zu Boden zu zerren, „sie verlässt mich.“
„Wie bitte?“ fragte ich und zeigte damit alle Hilflosigkeit, die momentan in mir war. Ich verstand nicht.
„Sie verlässt mich, Shroud, geht nach Dublin.“
Ich wusste nicht, was ich angesichts des Schmerzes, den Vincent mir offenbarte, sagen sollte, wusste nicht, wie ich ihn trösten konnte, wo sich jetzt und hier seine Affektion zu Sarah als Besessenheit entpuppt hatte. Wie sein Laden, so schien auch Vincents Seele eine Kammer voller dunkler, zum großen Teil unheimlicher Dinge zu sein.
„Sie geht nach Dublin, sie hat einen Mann kennengelernt, der dort einen Laden hat.“
Mir schien, als spräche Vincent nicht mit mir, sondern ließe nur die sprachliche Entsprechung seines Schmerzes aus sich heraus. Auch ich fühlte eine gewisse Trauer über Sarahs Abschied, hatte ich sie doch auch sehr in mein Herz geschlossen. Aber, um die Plattitüde zu gebrauchen, solche Dinge passieren.

Shit happens.
Armer Vincent.
„Sie geht noch heute, mit dem Neun-Uhr-Zug. Sie kommt nicht wieder.“
Bei aller Offenheit, die Sarahs Wesen auszumachen schien, hatte so auch sie ihre Geheimnisse, was nicht verwunderlich war, denn so ist es ja bei allen Menschen. Dass sie aber so plötzlich ging, fand auch ich nicht gut.
„Sie kommt nie mehr wieder.“
Bei näherer Betrachtung jedoch musste ich meine Meinung revidieren. Vielleicht war es grausam, Vincent von jetzt auf gleich mit dieser Tatsache zu konfrontieren, vielleicht war es aber auch barmherzig: ein schneller, kurzer Schlag, besser sicherlich als ein langwieriger, qualvoller Abschied.
Ich würde sie vermissen.
„Sie kann doch nicht einfach so gehen.“
„Vincent“, sagte ich leise, „dein Schmerz erschüttert mich, und du tust mir unendlich leid, aber Sarah hat das Recht, ihr eigenes Leben zu leben.“
Er blickte auf, sah mich an wie eine Schabe, dann senkte sich sein Kopf wieder. Er antwortete mir nicht.
„Vincent, auch wenn du es mir jetzt nicht glaubst, du wirst darüber hinwegkommen.“
Abrupt drehte er sich um, wandte sich ab von mir und ließ mich stehen wo ich war.
„Sie darf mich nicht verlassen, darf nicht einfach so gehen“, murmelte er vor sich hin, „nein, das darf sie nicht.“ Und damit verschwand er im Hinterzimmer.
Ich hörte noch ein „Sie darf nicht gehen“, dann drehte ich mich um, zog die Tür ins Schloß und kehrte zurück in die Kühle der Nacht, zurück unter den Blutmond von London.

 

*

 

Sie war nicht da, war nicht gekommen. Der Neun-Uhr-Zug nach Dublin mit Fährverbindung von Fishguard nach Rosslare war abgefahren, und Sarah war nicht aufgetaucht.
Ich war durch die hereinbrechende Nacht gelaufen, erschüttert von Vincents Abschiedsschmerz und traurig von meinem eigenen, und irgendwann hatte ich den Entschluß gefaßt, Sarah am Bahnhof Lebewohl zu sagen. Kurz vor neun war ich dort angekommen, der Zug stand bereit zur Abfahrt, aber keine Spur von Sarah. Sie war nicht im Zug und nicht auf dem Bahnsteig, und im ganzen Bahnhof suchte ich sie vergebens.
Und dann waren mir Vincents letzte Worte eingefallen, ich hörte wieder jenen Satz, den er, sich immer wiederholend, gemurmelt hatte, bevor ich gegangen war: „Sie darf mich nicht verlassen, darf nicht so einfach gehen.“
Und plötzlich packte mich die Angst, ein tiefes, unwillkürliches Grauen, denn ich dachte daran, dass Vincents Laden hergerichtet war wie ein Museum, besser noch: wie ein Schrein.
Diesen Gedanken erst jetzt in seiner vollen Tragweite erfassend, rannte ich auch schon los, die Treppen des Bahnsteigs hinauf, aus dem Gebäude hinaus und durch die von mattem Laternenlicht erfüllten Straßen von Greenwich, in denen unbeteiligte Menschen sich über den Kerl wundern mochten, der, ohne sie zu beachten, eiligst an ihnen vorüberstürmte.
Sarah!
Hoffentlich kam ich nicht zu spät!
Ich war gut trainiert im Laufen, schnell und gleichmäßig setzte ich in weiten Sprüngen einen Fuß vor den anderen, und warm und angenehm rann der Schweiß mir über Rücken und Brust. Hart und kalt schlug dagegen der Lauf der Ruger gegen meine Rippen, bei jedem Schritt ein Schlag, hunderte von Schlägen bis zu Vincents Laden.
Dunkelheit glotzte mich aus den Scheiben an, drohend, unheilschwanger.
Donnernd schlug ich meine Fäuste gegen das massive Türholz, klapperte am Türgriff: es war vergebens, der Laden fest verschlossen.
Was war das? Hörte ich da nicht einen dünnen Schrei, ganz fern, doch unsagbar schmerzvoll?
„Sarah!“ brüllte ich, „Vincent!“
Und dann riss ich die schwere Waffe aus ihrem Halfter, schwang sie gegen die Scheibe der Tür und zerschmetterte das dicke Glas mit dem klobigen Lauf. Das Fenster barst mit ungeheurer Lautstärke, als wolle es so gegen seine Zerstörung protestieren. Innen steckte der Schlüssel, wie ich gehofft hatte, und ich war drin.
Blutrot fiel das bisschen Licht von draußen, wo der Mond immer noch voll im Meer der dünnen Wolkenschleier schwamm, in das Innere des Panoptikums, ich stürmte hindurch, auf den hinteren Raum zu, stieß gegen ein Regal, von dem etwas fiel und klirrend zerbrach, hastete durch das andere Zimmer, dort eine Treppe hinauf, wo Vincent in einem Raum wohnte, der nach hinten raus über dem Laden lag.
Und wieder hörte ich ein Wimmern, einen klagenden Laut, der mir das Blut gerinnen lassen wollte, trat aus vollem Lauf gegen die Tür, die dieser Attacke nicht widerstand, die aufsprang und ein Bild des Grauens offenbarte. Dort lag Sarah auf einer Recamière, mit dicken Stricken an das Möbel gebunden, dessen heller, sandfarbener Stoff rot war von Blut, Blut, das aus vielen kleinen Wunden lief und sickerte, Wunden, die ihren ganzen Körper zu bedecken schienen.
Und über ihr, in jeder Hand einen seiner exotischen Dolche, beide nadelspitz und rasiermesserscharf, stand Vincent, wie aus einem Nachtmahr entsprungen. Die hagere Gestalt mit den dünnen Armen schien einer garstigen Spinne zu gehören, die mit bewehrten Klauen auf ihr Opfer einstach und schnitt, mit jeder Bewegung eine Wunde schlagend, klein zwar, oberflächlich fast, in ihrer Vielzahl jedoch tödlich wie ein Stich ins Herz. Vincent, der nun sein wahres Wesen offenbarte, das eines Teufels in menschlicher Gestalt, ließ ab von seinem Opfer, als die Tür unter meinem Tritt geborsten und ich zwei, drei Schritte in den Raum getreten war. In seinen Augenhöhlen sah man eines Dämons Träume schwelen, und messerschwingend sprang er auf mich zu, den zu richten, der sein Gericht zu unterbrechen wagte.
Doch war ich nicht nur ein einfacher Mann, nicht nur ein Detektiv, ich war ein Krieger, geformt und gestählt in den Feuern des Kampfes, und Vincent hatte dem nichts entgegenzusetzen als seinen blanken Haß und seine verzehrende Bessessenheit. Mein Körper war warm durch den langen Lauf, mit schnellen Bewegungen wich ich den Dolchen aus, dann trafen meine Fäuste ihn ins Gesicht, warfen ihn nieder, und mit dem Bewusstsein wich auch das Diabolische aus seinen Zügen, die nun selber mit Blut verschmiert waren, mit seinem eigenen Blut.
Dann ging ich zu Sarah, löste ihre Fesseln, versorgte notürftig die schlimmsten Wunden und trug sie dann hinunter, hinaus aus diesem Haus des Schreckens. Ihr bleicher Teint schimmerte rot, ob vom eigenen Blut oder dem Schein des Mondes, wusste ich nicht zu sagen. Leicht, wie leblos lag sie in meinen Armen, als ich sie durch die Nacht trug, dem Lichte zu.
Plötzlich ging ein Ruck durch sie, sie erstarrte in meinen Armen wie eine Statue, die kurz zu leben begonnen hatte und aus der das Leben nun wieder zu schwinden schien, und aus ihrem Mund ertönte ein Schrei, der Mark und Bein erschütterte.
Ganz schnell legte ich sie nieder, zog im Umdrehen meine Waffe, und da kam er: mit irren Sprüngen heranjagend, ein lebendiger Alpdruck, messerschwingend, das Gesicht eine Maske des Hasses: Vincent.
Wie hatte er die Besinnungslosigkeit so schnell überwinden können? Ich hatte ihn gut und hart getroffen. Egal.
„Vincent!“
Mein Ruf war eine Warnung, die letzte, die er von mir erhalten würde. Das blutende, wimmernde Etwas, das einst eine schöne junge Frau gewesen war, hatte mich mit Wut, mit unglaublichem Zorn und tödlicher Entschlossenheit erfüllt.
Ich zog den Hahn der Ruger zurück, klickend drehte sich die Trommel, und eine gefüllte Patronenkammer lag nun unter dem Hammer bereit.
Er hörte nicht, kam immer näher, nur noch zehn Meter.
Ich zog den Abzug nur wenige Millimeter zurück, und bevor der Donner des Mündungsknalls in der Nacht verhallte, schlug das großkalibrige Geschoß in den schlaksigen Körper, warf ihn mit schierer Gewalt mehrere Schritte durch die Luft zurück, zertrümmerte dabei Knochen, zerfetzte Gewebe und Gefäße. So schnell Vincent mit seinem sehnigen Körper auch war, der Tod war um ein vielfaches schneller...
Was war das?
Weiteres Donnern.
Weitere Schüsse?
Woher...

 

*

 

Woher kam das Donnern?
Langsam nur glitt mein Bewusstsein ins Hier zurück, begannen die Sinne zu erwachen. Ich war schweißgebadet, die rechte Hand noch zur Faust geballt, krampfhaft eine Waffe zu halten, die überhaupt nicht da war.
Was für ein Traum!
Unten vor dem Fenster knallte irgendein Idiot wohl eine Mülltonne gegen die Hauswand. So ein blöder Trottel!
„Ruhe!“ brüllte ich aus vollen Lungen. Innerlich war ich noch völlig zerwühlt von den furchtbaren Bildern des Traums, der mich in seinen Pranken geschüttelt hatte. Plötzlich war ich dem Penner draußen ganz dankbar, die Realität, so traurig sie auch sein mochte, war diesem Wahnsinn allemal vorzuziehen.
Sarah war gegangen.
Das war schon schlimm genug, schlimm für Vincent, schlimm auch für mich. Es bestand kein Grund, diese Geschichte zu einem blutrünstigen Spektakel zu verzerren.

Oh, du unergründliches Es!
Ermattet von der Wucht der Visionen stand ich auf, ging schlurfend ins Bad und erfrischte mich mit einigem kalten Wasser. Danach nahm ich ein Bier aus dem Kühlschrank, irgendwie versprach ich mir Trost vom Alkohol. Ich öffnete die Flasche, setzte die Öffnung an den Mund und nahm einen tiefen Zug.
Wie ich so dastand, den Kopf nach hinten geneigt, blickte ich genau auf den Mond in seinem blutigen Schleier, der immer noch voll über dem nächtlichen London thronte. Fast war ich geneigt, ihm die Schuld für den Alptraum zuzuschreiben.
Fast.
Plötzlich lief ein Schauer über meinen Rücken.
Sarah war wirklich nicht am Bahnhof gewesen, als der Zug abfuhr... und Vincents Laden dunkel und verschlossen.

 

Ende 

 

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