Shroud - Überall und nirgends

Bushido

„Weißt du eigentlich, mein Freund“, sagte Shiro Ryusaki mit gewohnt sanfter Stimme, „dass es sehr schwierig ist, einen Menschen umzubringen?“
Shroud konnte den Japaner im Zwielicht der Halle kaum erkennen, denn der drahtige Mann in seinem schwarzen Anzug verschmolz förmlich mit den Schatten. Trotzdem hob er leicht den Kopf in Richtung seines Gefährten. Er hob ihn aber nur ganz vorsichtig, um nicht plötzlich zum Ziel zu werden.
„Und wie“, antwortete er nach einem Augenblick, „möchtest du dieses Statement verstanden wissen?“
„Ist das nicht offensichtlich?“
Da Shroud diesmal nichts erwiderte, fuhr der Japaner nach einigen Sekunden fort.
„Der menschliche Körper ist ein Wunderwerk der Natur. Zuerst musst du, um ihn zu töten, die dicke, ziemlich zähe Haut durchdringen. Und unter der Haut musst du einen ganz präzisen Punkt treffen, das Herz etwa, um den schnellen Tod zu verursachen.“
Der Detektiv schüttelte den Kopf. Das war typisch Shiro, gerade in dieser Situation.
Shroud zog den Schlitten seiner Automatik zurück. Noch befanden sich alle Kugeln im Magazin. Jetzt hätte er sehr gerne seine Mossberg – Flinte gehabt, eine Pumpgun, geladen mit fünf Patronen großkalibrigem Schrot. Doch die Flinte hing säuberlich im Waffenschrank im Keller seiner Wohnung und war damit unerreichbar.
„Ein Bauchschuss ist auch nicht schlecht“, fuhr indessen Shiro fort, „aber der Getroffene kann sich damit unter Umständen immer noch verteidigen.“
Shroud tastete zum wiederholten Male in seiner Westentasche nach der Larry LWS. Der kleine Revol­ver war immer noch da, nutzte ihm hier aber so gut wie gar nichts. Auch er war mit sechs Patronen Schrot geladen, durch das kleine Kaliber aber nur als Nahkampfwaffe bis etwa acht, zehn Meter maximal brauchbar. Die Heckenschützen waren aber mehr als fünfzehn Meter weit entfernt.
„Toll ist natürlich ein Kopfschuss“, sinnierte der Japaner weiter, „aber bei den teilweise dicken Schädelknochen brauchst du dafür mindestens eine 38er.“
Oh ja, dachte der Detektiv, dazu wäre die Sig in seiner Hand wohl geeignet, aber die Ruger wäre genau richtig, die Ruger Double Action, ein schwerer Revolver vom Kaliber 356 Magnum. Diese Waffe war zu schwer, um sie ständig am Gürtel zu tragen. Oder war er einfach zu faul dazu? Das konnte sich jetzt rächen: sie lag ebenfalls - gut geölt - im Waffenschrank.
„Halt deine verdammte Schnauze!“
Am anderen Ende der Lagerhalle, hinter einer Zwischenwand aus massiven Holzbohlen, zeigten die mit sonorer Stimme vorgetragenen Ausführungen Ryusakis offenbar Wirkung. Dem zornigen Ausbruch folgte eine Salve Kugeln aus automatischen Waffen, die mit hässlichem Knallen und Jaulen in die Bretter einschlugen oder von den metallenen Stützstreben abprallten, hinter denen sich Shroud und sein Gefährte verbargen. Um wenigstens etwas Lärm zu machen, schoss der Detektiv zweimal mit der Larry zurück. Dass die Waffe auch ohne die massive Deckung der Gegner keinen Schaden verursacht hätte, konnten die Heckenschützen natürlich nicht ahnen.
Ein schmerzhaftes Stechen in seinem linken Unterschenkel erinnerte Shroud unsanft daran, dass er verwundet war. Es war zwar nur eine Fleischwunde, aber die tun oft auch am meisten weh.
„Sehr effektiv“, sprach Shiro weiter, als wären ihm nicht gerade noch die Kugeln um die Ohren geflogen, „ist auch ein Treffer in die Glockenstube, effektiv meine ich, auch wenn es den Mann nicht umbringt.“
Trotz der lebensgefährlichen Situation und seiner Schmerzen musste Shroud grinsen. Der Japaner, das wusste er mittlerweile sehr genau, war immer für eine ungewöhnliche Reaktion gut.
Eine weitere Geschossgarbe der unbekannten Feinde schlug ein. Ryusakis befremdliche Art allein würde sie aber nicht retten. Nicht heute, das stand fest.
Shroud gab erneut zwei Schüsse aus der Larry ab, sonst kamen die Schützen am anderen Ende der Halle womöglich auf die Idee, einen Sturmangriff zu versuchen, mit angesichts der mageren Bewaffnung der Verteidiger wahrscheinlich tödlichem Ergebnis. Nein, korrigierte er sich dann, das wäre für die Angreifer ebenso gefährlich wie für Shiro und ihn. Die Halle bot einfach keine weitere Deckung.
Minuten vergingen in quälender Stille, denn außer seinem eigenen Herzschlag konnte der Detektiv bis auf die üblichen Geräusche im Hintergrund – schwacher Verkehrs- und Baulärm – nichts hören. Es herrschte ein fatales Patt. Trotz der Überlegenheit an Männern und Waffen konnten die Angreifer nicht vorrücken, genau so wenig konnten die Verteidiger entkommen. Beide Parteien hinderte ein allzu offenes Schussfeld.
Shroud wäre es fast lieber gewesen, der Japaner würde in seinen Erörterungen fortfahren. Langsam machte er sich Sorgen, Shiro konnte etwas zugestoßen sein. Vor seinem geistigen Auge sah er den Freund in seinem Blut am Boden liegen, nicht weit von ihm, dort in der Dunkelheit.
„Shiro-san!“, rief er deshalb leise.
„Ich bin noch da“, kam die Antwort ebenso leise.
„Alles klar?“
„Ich denke nach.“
„Und über was?“, wollte der Detektiv wissen.
„Bushido.“
Shroud nickte langsam. Tatsächlich war ihm bereits der gleiche Gedanke gekommen, der angesichts ihrer Situation gar nicht so abwegig war. Er hatte dem Unausweichlichen bereits mehr als einmal gegenüber gestanden.
„Verstehe“, lautete denn auch die Antwort des jungen Detektivs.
Das Unausweichliche.
Der Tod.
„Ich weiß“, erwiderte Shiro.
Bushido.
Der Weg des Kriegers.
Der Weg des Kriegers liegt im Sterben. Wird man mit zwei Alternativen konfrontiert, Leben und Tod, so soll man ohne Zögern den Tod wählen. Daran ist nichts Schweres; man muss nur fest entschlossen sein Ziel verfolgen.
Shroud hatte das ‚Hagakure’ des Yamamoto Tsunetomo viele Male gelesen. Es war eine Art Leitfaden für das Leben der Samurai im feudalistischen Japan.
Um die Angelegenheiten mit einem Feind in Ordnung zu bringen, muss man nur in den Feind hineinpreschen und getötet werden. So ist der eigene Tod frei von Schande.
Dieser Leitfaden galt über Jahrhunderte für die geehrten Krieger in Japan. Nicht jedoch im modernen London. Shroud brauchte gar nicht darüber nachzusinnen.
Er wollte nicht sterben.
Nicht heute.
Nicht auf diese gemeine Weise.
„Traditionen sind auch nicht mehr das, was sie mal waren“, sinnierte der Detektiv so und lagerte das verletzte Bein auf einen Holzklotz, der neben ihm lag. Dies stoppte wenigstens die Blutung, auch wenn der Schmerz blieb.
„Das ist der Grund“, antwortete Shiro Ryusaki leise mit müder Stimme, „warum du immer ein Gaijin bleiben wirst, Shroud-san.“
Zum wiederholten Male musste Shroud beinahe lächeln über die Ausführungen des Japaners. Es lag schon eine gewisse Ironie darin, von einem Asiaten in einer westeuropäischen Stadt als „fremder Teufel“ bezeichnet zu werden. Dennoch konnte Shroud jetzt  nicht lächeln. Zu der offenbar ausweglosen Situation gesellte sich die Sorge um den Freund. Der Detektiv wusste nur zu genau, dass Shiro einem ganz besonderen Ehrenkodex folgte, der seltsamerweise dem der alten Samurai nicht unähnlich war.
Der Kodex der Yakuza.
Jemand sollte seinen Feinden gegenübertreten, fest entschlossen, ein Dutzend Feinde nach dem anderen zu schlachten, wieviele tausend Feinde da auch sein mögen.
Die Samurai waren die Kriegerkaste Japans gewesen, bis sie im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert durch den zunehmenden Einfluss des Westens aus der feudalen Gesellschaft verschwunden wa­ren. Natürlich waren die Samurai nicht mit den Mitgliedern der Yakuza zu vergleichen, denn im Gegensatz zu den Kriegern waren die Yakuza Mobster, sie bildeten, ebenfalls seit Jahrhunderten, das organisierte Verbrechen in Japan: Nippons Mafia.
„Das mag sein, mein schlitzäugiger Gefährte“, nahm Shroud den Faden des Gespräches wieder auf, „aber du stehst hier nicht für einen Fürsten ein. Du bist dein eigener Herr.“
Damit spielte der Detektiv auf die einzigartige Position Ryusakis innerhalb der Yakuza an, die sich in London ausgebreitet hatte wie ein Geschwür. Obwohl selbst kein Anführer, unterstand Shiro doch auch keinem der Oyabun, er wurde von hochgestellten Persönlichkeiten in Tokio beschützt.
„Ronin.“
Auch diese Antwort Shiros bestätigte die Gedanken seines Freundes. Ein Söldner, der nicht im ehrenhaften Dienst eines Fürsten stand. Fast schon ein Ausgestoßener. Eben ein Ronin.
Jemand sagte, die Entlassung aus dem Amte des Gefolgsmannes wäre eine enorme Belastung. Als ich einmal Ronin war, entdeckte ich, dass das Leben nicht so schmerzhaft war, wie ich es mir vorgestellt habe; es war tatsächlich ganz anders als in meiner Phantasie. Ich sollte mich freuen, wieder ein Ronin werden zu können.
„Du bist ein Mann von Ehre, Shriro-san“, sagte der Detektiv leise, aber mit fester Stimme. „Nur in der Bewertung der jetzigen Lage bist du im Irrtum!“
Mehr fast noch als die Sorge um das eigene Leben fühlte Shroud Angst in sich, Angst um seinen Freund, der sich von ihm so sehr unterschied und ihm in vielen Dingen doch so sehr glich. Von Anfang an hatte der Detektiv den Japaner als kaltblütigen, furchtlosen Kämpfer kennen gelernt, der seinen einmal gefassten Standpunkt vertrat, koste es was es wolle. Mehr noch, Shroud verstand den Yakuza nur zu gut. Was diesem die Ehre war, hätte der Detektiv an sich selbst Sturheit genannt, und ihrer beider Streben, eine einmal übernommene Aufgabe zu erledigen, ungeachtet der Folgen, konnte man mit dem japanischen Wort „giri“ umschreiben, „Pflicht“, auch wenn diese Übersetzung bei weitem nicht das ausdrückte, was sich hinter dem Begriff verbarg. So hatte dieser innere Einklang zwischen den beiden Männern, die zunächst als Feinde einander gegenüber gestanden hatten, schließlich zu einer tiefen, ehrlichen Freundschaft geführt.
Und Shroud wollte seinen Freund nicht verlieren!
Abgesehen davon: allein hatte er gegen die Übermacht der Angreifer, die er für einen Moment tatsächlich vergessen hatte, erst recht keine Chance.
Es war ein verwünschtes Patt. Eine Situation, in der jeder unbedachte Schritt unweigerlich in die Katastrophe führen musste. Fieberhaft begann der Detektiv, nach einer Lösung zu suchen, obwohl er innerlich bereits wusste, dass es eine Lösung nicht gab. Sie konnten nicht entkommen.
Erneut verwünschte er den Tag.
Er verwünschte, dass er nicht mehr Waffen dabei hatte.
Er verwünschte seine Abneigung gegen Mobiltelefone. Wie oft hatte er sich über diese Wichtigtuer lustig gemacht, die immer und überall errreichbar sein wollten. Wie oft hatte er sich über die unmöglichen, unmusikalischen Klingeltöne, deren Variationen mittlerweile Legion waren, geärgert. Polyphonie – ein Witz!
Und wie sehr wünschte er sich jetzt, sein Handy – aus beruflichen Gründen war er natürlich irgendwann gezwungen gewesen, selbst eines dieser nervtötenden Gerätschaften anzuschaffen – bei sich zu haben. Doch das Telefon lag in seinem Wohnzimmer, warm und trocken.
„Verdammter Mist!“
Obwohl Shroud geflüstert hatte, antwortete Shiro Ryusaki mit einem leisen Lachen.
„Hast du kein Handy dabei?“ fragte Shroud ärgerlich.
Wieder bestand die Antwort nur in einem kurzen, leisen Lachen.
„Kann mir irgend jemand sein Handy leihen?“ rief der Detektiv jetzt zu den Belagerern hinüber. Als Antwort flogen ihm wieder die Kugeln aus den blubbernden MPs um die Ohren.
„Mein Gott, man wird doch mal fragen dürfen!“
Es war grotesk: Shroud hatte tatsächlich für einige Augenblicke die ganze Situation beiseite geschoben, bis sich dort, am anderen Ende der Halle, die Angreifer durch ihre Schüsse zurück in seine Gedanken gedrängt hatten. Er feuerte die letzten Schrotladungen seiner Larry LWS hinüber, als karges Echo der Salve. Vielleicht hatte Shiro ja sogar Recht: die Lage war hoffnungslos.
Ein Mann, der unterwegs von plötzlichem Regen überrascht wird, rennt die Straße hinunter, um nicht nass und durchtränkt zu werden. Wenn man es aber einmal als natürlich hin nimmt, im Regen nass zu werden, kann man mit unbewegtem Geist bis auf die Haut durchnässt werden.
War es das, das Ende?
Wer würde den ersten, den tödlichen Fehler machen? Alles sprach dafür, dass es nicht die Angreifer waren, denn alle Trümpfe lagen bei ihnen. Sie waren in der Überzahl, sie hatten mehr und bessere Waffen. Wenn sie auch kaltblütig genug waren, würden sie am Ende triumphieren.
Shroud überdachte zum x-ten Male die Situation, und die Ironie seiner Lage – ihrer Lage, denn Shiro Ryusaki war genau so bedroht – ließ Bitterkeit in ihm aufsteigen. Er wusste noch nicht einmal, wer die Kerle waren, die dort am anderen Ende der Halle auf sie lauerten. Waren es seine Feinde? Oder doch Shiros?
Im Grunde genommen war das furchtbar egal, denn sie waren offensichtlich nicht gewillt, auch nur einen von ihnen beiden ziehen zu lassen.
War es das, fragte er sich wieder. Hatten ihn all seine Entscheidungen, seine Handlungen und Irrtümer, an diesen Platz geführt, wo er sterben würde? ‚Gott’, dachte er bei sich, ‚das habe ich nicht verdient!’
‚All’ unsere Gestern haben Narren den Weg zum staub’gen Tode geleitet’, heißt es schon bei Shakespeare.
Shroud hatte versucht, ein guter Mensch zu sein. Gerade jetzt jedoch fiel ihm ein, dass es allzu oft bei dem Versuch geblieben war. Aber er hatte es immer gut gemeint.
‚Der Weg zur Hölle’, wusste ein Sprichwort, ‚ist gepflastert mit guten Vorsätzen.’
Sehr oft waren seine Intentionen nach hinten los gegangen, und viele Menschen hatten für seine Fehler, für seine Schwächen bezahlen müssen. Wie ein kurzer, brennender Schmerz fiel ihm Gillian ein, die Frau, die ihn geliebt hatte und die an seiner Stelle von einem Auftragskiller umgebracht worden war. Schnell verdrängte Shroud diesen Gedanken.
Aber was hätte er sonst tun können? Was hätte sich geändert durch andere Vorgehensweisen? Vielleicht viel.
Vielleicht aber auch gar nichts.
Letztlich hatte der Privatdetektiv nicht anders handeln können. Schließlich folgten die Handlungen eines Menschen aus dessen Persönlichkeit, und Shrouds Persönlichkeit war nun einmal so, wie sie war.
So gingen seine Gedanken immer weiter im Kreis herum, führten zu nichts, schon gar nicht zu einer Lösung. Zumindest jedoch war die Erkenntnis, dass die Fehler eines Menschen eben menschlich und damit unvermeidlich waren, ein gewisser Trost für ihn. Andere Entscheidungen hätten wohl oder übel zu anderen Fehlern geführt. Vielleicht wäre er dann nicht hier gelandet, in dieser tödlichen Falle. Vielleicht wäre er dann bereits tot.
Vielleicht waren beide Möglichkeiten in Ordnung. Jeder Mensch musste einmal sterben. Vielleicht war er heute dran. Dieser Gedanke hatte fast etwas Befreiendes.
‚Aus, aus, kleines Licht!’
„Hörst du das auch, Shroud – san?“
Die leise Stimme Shiros ließ den Detektiv zusammenschrecken. Wieder war er mit seinen Gedanken ganz woanders gewesen. Auf seine ganz persönliche Art hatte er seinen Frieden mit sich selbst gemacht, war er beinahe bereit zum Sterben.
Jetzt konzentrierte er sich wieder auf das Hier und Jetzt – auf die bittere Wahrheit seiner eigenen, kleinen Welt.
Zunächst hörte er nichts Außergewöhnliches – doch halt! Dieser ferne, auf- und abschwellende Ton, der langsam näher kam.
Shroud konnte es nicht fassen.
Polizeisirenen.
„Verdammte Scheiße!“
Das waren nicht seine Worte, dieser Ausruf kam aus dem Versteck der Heckenschützen.
„Scheiß Bullen!“
Dann folgte ein erregtes Gemurmel, dem Shroud nicht mehr folgen konnte.
Der Detektiv fühlte, wie ein heißer und zugleich kalter Schauer durch seinen Körper fuhr.
Polizeisirenen!
Seine Hand begann unwillkürlich ein wenig zu zittern, so versetzte ihn das Geräusch in Erregung. Und dennoch griff erneut die Angst nach ihm: wenn sie nun gar nicht hierher unterwegs waren, die Polizisten?
Dennoch kamen die Sirenen näher, schon glaubte der Detektiv auch, am Limit drehende Automotoren zu hören.
„Achtung jetzt!“
Shroud hätte nicht zu sagen vermocht, von wem dieser letzte Ausruf gekommen war – und er hatte auch keine Zeit mehr, darüber nachzudenken.
Die Killer kamen.
Innerhalb kurzer Sekunden sprangen sechs Männer aus ihrer Deckung hervor, ein jeder aus allen Rohren feuernd.
MAC 10.
Micro-Uzi.
Vom Feinsten.
Trotz der rasend schnell ablaufenden Geschehnisse erlebte Shroud alles wie in Zeitlupe. Die Kugeln schlugen um ihn herum ein wie Splitter einer Bombe, die direkt neben ihm hochging. Und da war Shiro. Einem Phantom gleich, im Zwielicht der Halle kaum zu erkennen, schien er auf die Heckenschützen zuzufliegen, in jeder Hand eine Beretta 92 Parabellum. Er war viel weiter hinten als Shroud gedacht hatte, der Japaner musste sich lautlos, gleichsam Zentimeter um Zentimeter, dorthin vorgearbeitet haben. Damit war er fast schon im Rücken der Angreifer – und außerhalb ihres Schussfeldes.
Beide Berettas feuerten, spielten ihre Melodie in dieser Sinfonie des Stahlgewitters. Zwei Angreifer wurden getroffen, es waren saubere Kopfschüsse. Sie fielen einfach um, augenblicklich des Lebens beraubt.
Die verbleibenden Vier waren erschrocken - das war eine böse Überraschung für sie. Drei von ihnen fuhren herum und schossen auf den Japaner, der jedoch in fließenden Bewegungen bereits wieder in Deckung war. Shroud war in die Hocke gegangen, und jetzt, den Schmerz in seinem Bein ignorierend,  sprang er auf und feuerte mit seiner SIG. Der eine Angreifer, der noch in seine Richtung rannte, wurde frontal von zwei Kugeln in die Brust getroffen. Als wäre er gegen ein unsichtbares Hindernis geprallt, fiel er halb rücklings und gurgelnd zu Boden. Wieder fuhren die anderen herum. Wieder starb einer durch einen gezielten Schuss aus Shiros Beretta.
Die letzten beiden standen im Kreuzfeuer aus drei Pistolen, und obwohl keiner der Treffer direkt tödlich war, überlebte keiner der zwei Killer den unbedachten Angriff.
So waren es doch sie gewesen, die den letzten, den tödlichen Fehler gemacht hatten.
Der Streifenwagen raste mit heulendem Motor und kreischenden Bremsen mitten hinein in das Fiasko. Unwillkürlich gingen der Detektiv und der Japaner wieder in Deckung. Ein zweiter Wagen schoss herein, dann ein dritter. Schwer bewaffnete, behelmte Polizisten in schusssicheren Westen sprangen heraus aus den Autos, deren Scheinwerfer und Drehlichter huschende Reflexe in das Dunkel der Halle warfen.
„Keine Bewegung!“
„Waffen fallen lassen!“
„Hände hoch!“
„Nicht schießen!“
Minuten später war der Alptraum endlich vorbei.
Als das Adrenalin langsam abgeklungen war, fühlte Shroud vor allem zwei Empfindungen: Schmerz und Enttäuschung.
Der Schmerz wurde verursacht durch die Wunde an seinem Bein, die durch die Schießerei wieder heftig zu bluten begonnen hatte. Außerdem hatte sich der Detektiv die eine oder andere Abschürfung zugezogen, und der eine oder andere Splitter steckte in seiner Haut. Nichtigkeiten.
Vielmehr aufgewühlt wurde er durch die Tatsache, dass er beinahe enttäuscht war. Tatsächlich, er fühlte so etwas wie Enttäuschung darüber, dass er noch lebte. In gewissem Maße schämte er sich sogar, dass er noch lebte.
Shroud blickte herüber zu Shiro, der missmutig seinen Anzug betrachtete. Die schwarze Shantung – Seide – alle Anzüge Shiros bestanden aus schwarzer Shantung – Seide – hatte sehr gelitten, der Anzug war ruiniert. Dies schien den Japaner mehr zu bekümmern als zahlreiche kleine Fleischwunden, die er sich zugezogen hatte. Der Detektiv humpelte zu seinem Freund hinüber.
„Geht es dir gut?“, wollte er wissen.
Shiro schob einen Finger durch ein Loch in seinem Ärmel und verzog das Gesicht.
„Hm“, machte er nur.
Die geistreiche Unterhaltung wurde unterbrochen durch die Ankunft weiterer Fahrzeuge. Mehrere Krankenwagen fuhren vor zur Versorgung der Verletzten und zum Abtransport der Toten. Ein großer Rover, ein Zivilfahrzeug, hielt dicht hinter einem der Streifenwagen. Heraus stieg ein Mann mit eisgrauen Schläfen, einem scharfen Blick und einem tadellos sitzenden Zweireiher. Detective Superintendend Michael Peter Metcalfe, Chef des Dezernats für Gewaltverbrechen der Metropolitan Police, überblickte die Situation mit prüfenden Blicken. Dann ging er gemessenen Schrittes zu den beiden Männern, die jetzt von Sanitätern versorgt wurden.
„Shroud“, sagte er knapp und nickte mit dem Kopf. Den Japaner übersah er geflissentlich. Anders konnte der Polizist dem Yakuza auch nicht begegnen.
„Met“, antwortete der Detektiv.
„Du fühlst Enttäuschung“, mischte sich plötzlich Shiro in die Konversation ein, ohne den Beamten zur Kenntnis zu nehmen, „weil du noch lebst.“
Es war eine nüchterne Feststellung.
Shroud blickte seinen asiatischen Freund an und war wieder einmal erstaunt über dessen großes Ein­fühlungsvermögen. Langsam nickte er.
Shiro Ryusaki hingegen schüttelte den Kopf.
„Das brauchst du nicht“, sagte er nur.
„Das Hagakure zu lesen“, erwiderte Shroud mit müder Stimme, „ist etwas anderes, als danach zu leben.“
„Das ist“, dozierte der Japaner, „eine fundamentale Erkenntnis für einen Gaijin. Und es bedeutet“, fuhr er fort, „dass du niemals ein Samurai hättest sein können.“
„Hm“, machte diesmal Shroud. ‚Vielleicht hätte ich das auch niemals gewollt.’ Aber das dachte er nur.
„Vielleicht aber irre ich mich auch“, fuhr statt dessen Ryusaki fort, „und du wärest ein weit besserer Samurai gewesen als ich.“
„Ich nehme an“, mischte sich Metcalfe ein, dessen Stimme gewohnt unwirsch klang, „dass mich niemand darüber informieren möchte, was das alles zum Teufel zu bedeuten hat.“
Der Detektiv zuckte die Schultern. Er wusste noch nicht einmal, ob der Polizist das kleine Gespräch mit Shiro oder das Fiasko in der Halle meinte.
„Du hast uns das Leben gerettet“, antwortete er nur kurz, „wenn deine Männer nicht gekommen wären...“ Er ließ den Satz unvollendet. Dann fuhr er fort: „Uns beiden hast du das Leben gerettet. Auch Shiro.“
Der Detective Superintendent blickte nun den Yakuza an, als ob dieser ihm gerade erst aufgefallen war. Sein Gesichtsausdruck wurde womöglich noch eine Spur mürrischer.
„Tja“, sagte er, und seine Stimme illustrierte seine Stimmung, „man kann eben nicht alles haben“, knurrte er und wandte sich seinen Männern zu.
Shiro Ryusaki und Shroud lächelten still.
Sie lebten.
Als ihre Wunden versorgt und ihre Aufregung sich gelegt hatte, als es Zeit war, sich nach Hause zu begeben und auszuruhen, bevor sie am nächsten Morgen weiteren Befragungen der Polizei zur Verfü­gung stehen mussten, wandte sich der Japaner noch einmal an den Detektiv.
„Was“, so fragte er, „denkst du nun, Shroud – san?“
Shroud atmete tief durch, bevor er antwortete.
„Ich denke, ich werde weitermachen.“
„Weitermachen womit?“
„Mit meinem Leben. Mit meinen Entscheidungen.“
„Mhm“, machte Shiro.
„Wahrscheinlich“, entgegnete Shroud, „wahrscheinlich wird dies mal mein Ende sein, aber ich muss mir selbst treu bleiben. Das ist meine Pflicht mir selbst gegenüber.“
Shiro legte dem Detektiv eine Hand auf die Schulter und lächelte versonnen.
„Und daran“, sagte er mit sanfter Stimme, „tust du sehr gut, mein Freund!“
Der Samurai muss zuerst in sich selbst Weisheit, Güte und Tapferkeit pflegen.

 

Ende

 

 

Zitate aus dem „Hagakure – Der Weg des Samurai“ von Yamamoto Tsunetomo, in der Übersetzung vom Angkor – Verlag, Guido Keller, Foockenstr. 5, 65933 Frankfurt/M. 1999

 

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