Die Kontemplation des Dämons

Eine Story aus der Sammlung "Die Fingerübungen des Teufels"

Die Kathedrale reckte ihre gotischen Türme weit in das schmutzig graue Zwielicht des Himmels. Von unzählbaren Händen in harter Fronarbeit erbaut, sollte sie auf Erden die Herrlichkeit Gottes und die Allmacht der Dreifaltigkeit schon auf weite Entfernung verkünden.
Der Dämon stand an der Basis des östlichen Turmes und blickte hoch an den basaltenen Steinbergen. Er schaute hinauf und verstand den Zweck dieses Monuments nicht. Warum verwandten Menschen so unglaublich viel Energien darauf, ein solch titanisches Bauwerk zu errichten? Wohnten sie doch selbst oft in völlig herunter gekommener Ärmlichkeit.
Nach menschlichen Maßstäben war der Dämon monströs mit seiner Größe von über fünfzehn Fuß. Dieser Eindruck wurde noch verstärkt durch die gelblichen, an Dolche gemahnenden Reißzähne in seinem gewaltigen Rachen und die tief in den Höhlen glimmenden Augen, die wie glühende Kohlen wirkten. Auf zwei mächtigen Beinen stapfte der Dämon weiter an der Fassade des sakralen Bauwerks entlang, bewunderte die schiere Stärke der Mauern, die feinen Steinmetzarbeiten an tausend Schlusssteinen und die zerbrechlichen, geradezu ätherisch wirkenden bunten Fenster aus filigranen Bleiglasmosaiken. Die biblischen Szenen, die dort angebildet waren, sagten ihm nichts. Sie erbauten ihn nicht.
Sollte er nicht zumindest eine gewisse Scheu empfinden angesichts des gewaltigen Gottestempels? Er, der Höllenfürst, der Sendbote des Antichristen, sollte diese Himmelsarchitektur ihn nicht bis ins innerste Mark entsetzen? Immerhin wusste die schreckliche Kreatur, dass es sich bei dem gigantischen Bauwerk um ein Haus des Herrn handelte.
Der Dämon verharrte und horchte in sich hinein.
Er fühlte nichts.
Nichts, außer einer vagen Vorfreude, denn hier würde er seinen Hunger endlich stillen können, seinen nagenden Hunger nach Lebensenergie, die von den Menschen Seele genannt wurde. Jedenfalls war die monströse Kreatur überzeugt davon, sich hier auf lange Zeit hinaus laben zu können. Hier, an dem Ort, den seine Artgenossen mieden wie nur noch die Himmelspforten selber.
Doch statt des strahlenden Gotteshauses, dessen Aura allein den Dämon bis ins Mark treffen sollte, gab es nur dieses steinerne, kalte, schwarze Monument.
Die Kreatur erreichte die große Pforte der Kathedrale, hohe, nach oben sich bogenförmig verjüngende Türhälften aus mit schwarzem Metall beschlagenen Holzbohlen. Auf jeder der zwei Hälften prangte das Symbol des Gottes dieser Menschen, das Kreuz, Sinnbild für Aufopferung und Erlösung.
Jetzt galt es.
Kurz zögerte er noch angesichts seines kühnen Vorhabens, dass, glaubte man den anderen Höllenfürsten, ihn unweigerlich die Existenz kosten musste.
Dann betrat der Dämon die Kathedrale, geweihten Boden, und verharrte dort.
Er fühlte nichts.
Der Zorn Gottes blieb aus.
Und warum auch nicht? Hatte die höllische Kreatur nicht selber gesehen, wozu die Christenmenschen in der Lage waren? Hatten ihre Priester nicht sogar den Krieg gesegnet und den Tod gepredigt gegen so viele ihrer Artgenossen?
Es sollte anders sein. Das himmlische Feuer sollte mit Macht herabfahren und den Dämon mit blauen Flammen kalt verzehren.
Nichts geschah.
Jahrhunderte lang hatten sie alle geglaubt, dass dies, was er gerade vollbracht hatte, unmöglich sei. Jetzt war auch dieses Monument der Wirklichkeit gefallen.
Der Diabolus blickte um sich. Gleich hier, neben ihm, stand das steinerne Becken mit Weihwasser. Geweihtes Elixier, dessen Anblick allein für ihn unerträglich sein sollte. Seine einzige Empfindung allerdings war Hunger. Sein monströser Leib verlangte nach Nahrung, und mehr noch sein höllisches Wesen. Er schritt weiter voran, den Mittelgang des Hauptschiffs entlang, auf den Altar zu. Wieder konnte er nicht umhin, die Pracht und schiere Monumentalität zu bewundern. Nirgendwo auf dieser Welt oder einer anderen gab es einen vergleichbaren Palast für den Höllenfürsten.
Dann blickte der Urian auf das große Kreuz, dass über dem Altar an Drähten aufgehängt war, und die hölzerne Christusfigur daran. Der Gesichtsausdruck des Erlösers war unendlich bekümmert. Der Dämon glaubte ihn zu verstehen. Wie abtrünnig waren die Menschen seiner Lehre geworden!
Die Kreatur fühlte keinen Triumph, nur so etwas wie eine stille Trauer und Verzweiflung.
Doch jetzt wurde seine Aufmerksamkeit abgelenkt, denn er war nicht länger allein im Gotteshaus. Eine Handvoll Mönche – sie lebten in dem Kloster nicht weit entfernt – betrat das Hauptschiff von der Sakristei aus. Unter ihnen, die durch ihre Kutte kenntlich waren, war auch ein Priester. Der Dämon fletschte seine furchtbaren Reißzähne und knurrte unheilvoll.
Der Priester, in vollem Ornat, mit einem Kreuz in der Hand, wich zurück. Seine Mönche stellten sich schützend vor ihn.
„Oh Herr“, begann der Geistliche.
Mit zwei Schritten nur war der Dämon unter ihnen und packte den Priester, hob ihn wie spielerisch in die Höhe. Die Mönche schrien entsetzt auf und rannten wie von Furien gehetzt davon. Nicht wenige strauchelten und fielen über ihre Kutten, rafften diese und sich selbst wieder auf und waren weg, schneller als man ein Ave Maria sprechen konnte. Der Höllenfürst beachtete sie nicht, sondern richtete seine gelblich glimmenden Augen auf den Klerikalen.
„Beschütze mich vor dem Bösen, oh Herr!“ wimmerte der Priester, der in seinem verrutschten Ornat mehr als jämmerlich aussah.
„Versuche nicht zu etikettieren“, grollte der Dämon, „was Du nicht verstehst! Ich bin nicht böse!“
Dann zerquetschte er die sich windende Kreatur zwischen seinen mächtigen Pranken und sog die Lebensenergie begierig in sich auf.
Es war so wie immer, wenn er eine Seele nahm. Die Energie durchströmte ihn stärkend und labend. Und doch war der Dämon enttäuscht.
Sollte nicht ein Verkünder Gottes, des Allmächtigen, ein Gesalbter, ein lebender Heiliger ein größerer Schmaus sein? Sollte seine Seele nicht glühen wie ein Gewittersturm in finsterer Nacht? Sollte sie den Dämon nicht mehr stärken als nur irgend etwas?
Die Kreatur ließ die sterblichen Überreste des Geistlichen achtlos zu Boden fallen. Er hatte sich geirrt. Der Geschmack dieser Seele war genau so fahl und vergänglich wie die eines beliebigen Menschen. Der Urian blickte wieder hinauf zum Kreuz, und er fühlte großes Mitleid mit dem Erlöser.
Es war alles umsonst gewesen.
All die Lehren, all das Leid.
Diese Kirche war es nicht wert.
Und der Dämon? Wie konnte er selber böse sein, wenn es nicht mal hier, an diesem Ort, das Gute gab?
So sinnierte er.
Dann wandte er sich ab und verließ die Kathedrale.
Hier würde er das nicht finden, was er gesucht hatte.
Schnell schritt er aus auf seinem Weg durch die zu Ende gehende Nacht. Bald würden selbst die mächtigen Türme des Gotteshauses hinter dem Horizont verschwunden sein.
Der Dämon blickte sich nicht um.
Nicht ein einziges Mal.

 

ENDE

 

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