Es dauert nicht mehr lang, O'Brien

Es dauert nicht mehr lange, O'Brien.
Die Sonne wirft ihre ersten Strahlen durch das kleine Fenster unter der Decke, du sitzt so auf deiner Pritsche, daß sie sanft über dein Gesicht streichen. Du findest es angenehm, du seufzt verhalten. Du kneift nicht einmal die Augen zusammen, du willst diese Sonnenstrahlen vollkommen auskosten, dieses Gefühl der sanften Wärme.
Feurige Ringe tanzen vor deinen Augen, schon laufen dir die ersten Tränen über die Wangen, und immer noch starrst du in die Sonne, die du nie so bewußt wahrgenommen hast, O’Brien.
Du fragst dich, warum das so ist. Warum hast du niemals vorher diese wunderbaren Sonnenstrahlen auf dein Gesicht fallen lassen ?
Dir fällt die Anwort ein, und endlich schließt du die Augen und wendest dich ab. Die Antwort macht dich traurig, und die Tränen, die nun über dein Gesicht laufen, kommen nicht mehr von deinem Starren.
Was ist auch schon Besonderes an der Sonne ? Sie geht auf, im Osten war es wohl, sie zieht über den Himmel und geht im Westen wieder unter. Tag für Tag, Nacht für Nacht, Jahrtausende lang.
Was ist so Besonderes an der Sonne ? Gut, sie spendet Licht, doch wenn sie nicht scheint, drückst du einen Knopf, und es ist trotzdem hell. Sie spendet Wärme, doch wenn du frierst, ziehst du etwas über, oder noch bequemer, du drehst einen anderen Knopf, und schnell ist es wieder warm.
Die Sonne bedeutet gar nichts.
Doch wo, O’Brien, wo sind diese Knöpfe, wo sind sie nur?
Schau um dich; Sie sind nicht da.
Du wischt dir die Tränen vom Gesicht und blickst umher, dein Blick schweift durch den kleinen Raum. Er ist nur karg eingerichtet, doch Luxus hast du noch nie gebraucht. Du hast ja auch nie welchen besessen, O’Brien.
Du siehst das Bett an der Wand, dieses Drahtgestell mit einer Strohmatratze drauf, darüber eine grobe Leinendecke. Doch es hält warm, und das ist ja auch die Hauptsache.
Du hast einen kleinen Hocker, der fest am Boden verschraubt ist, manchmal sitzt du darauf und schaust dir die Graffiti an der Wand an. Du bist erst zwei Tage hier, doch alles kennst du schon auswendig. Es ist ja auch deine einzige Abwechslung.
Dann gibt es noch einen Wasseranschluß und ein Klo. Das Wasser ist wunderbar kalt und erfrischend. Es ist klar und hell und schmeckt ausgezeichnet, fast wie das Wasser aus einem Gebirgsbach, aus dem du früher immer getrunken hast, wenn du aus dem Wald nach Hause gekommen bist. Ja, so wunderbar erfrischen ist dieses Wasser, das in einem dünnen, aber stetigen Strom aus dem Hahn fließt, der nur ein wenig angerostet ist und matt im Licht des jungen Tages glänzt.
Das Klo stinkt. Du hast versucht, es mit einem Lappen zu säubern, doch es hat nichts genutzt. Schließlich hast du es aufgegeben.
Lange bleibe ich ohnehin nicht, das du dir gedacht, außerdem: man gewöhnt sich an alles.
Doch wo ist der Lichtschalter, wo ist nur der verdammt Lichtschalter? Zum ungezählten Male blickst  du durch den Raum. Ist er dort, neben der großen Tür, die nicht fertig ist? Nein.
Dein Blick verharrt an dieser Tür. Sie ist so groß und schwer, ganz aus Stahl, der stumpf glänzt und das Licht aufzusaugen scheint.
Die Tür ist ganz glatt, völlig eben, und doch ist sie nicht fertig. Sie hat nämlich keine Klinke. Verteufelt, ja, sie hat einfach keine Klinke. Bei diesem Gedanken mußt du Grinsen, O’Brien. Eine Tür ohne Klinke, einfach lächerlich.
Doch dann fällt dir ein, daß sie doch eine hat, eine Klinke - nur nicht auf dieser Seite, und dein Grinsen erstirbt auf deinem Gesicht, es stirbt schnell und schmerzlos.
Und wo ist der Lichtschalter? Du blickst an die Decke, dorthin, wo die kleine Kuppel aus Panzerglas aus dem weiß getünchten Beton herausragt, die kleine Kuppel, unter der du die Glühbirne nur schemenhaft erkennen kannst, die jeden Abend von achtzehn bis einundzwanzig Uhr brennt und ein fahles leuchten in den Raum wirft. Genau bis einundzwanzig Uhr, und doch ist dort kein Lichtschalter.
Verdammt noch einmal!
Es gibt in diesem verwunschenen Raum nicht einmal eine Heizung, da kann es ja auch keinen Thermostatregler geben. Und es gibt keinen Lichtschalter.
Dies denkst du O’Brien, und plötzlich erkennst du, daß es dir scheißegal ist. Na und, dann gibt es eben keinen Lichtschalter. Es gibt ja auch kein Radio in diesem Raum, kein Buch, keinen Tisch, kein weiches Bett. Und das Klo stinkt. Scheißegal!
Wenn nur wenigstens diese gottverdammte Tür eine Klinke hätte....
Dein Blick wandert zurück zum Fenster, diesem kleinen, nicht einmal kopfgroßen Loch in der dicken, weißgetünchten Wand mit den vielen Graffiti.
Du willst noch einmal die Sonnenstrahlen einfangen, diese überflüssigen, völlig nutzlosen Sonnenstrahlen. Diese sinnlose Energieverschwendung. Doch die Zeit ist vergangen, die Sonne ist weitergezogen und fällt nicht mehr auf dein Gesicht, O’Brien, wie sehr du dich auch reckst und streckst. Schließlich senkst du den Blick und läßt dich auf den Hocker fallen.
Du weißt, du hast soeben das einzige verloren, was dir noch wertvoll war. Diese einzigen, nutzlosen und verschwenderischen Sonnenstrahlen waren das Letzte, was sie dir nicht nehmen konnten. Verzweifelt ballst du deine Fäuste und preßt sie gegen deine Schläfen. Nie hattest du gedacht, daß es so sein könnte, so unvorstellbar grausam und brutal.
Plötzlich, wie von Geisterhand bewegt, schwingt die große, stählerne Tür auf, du siehst es nicht, und du hörst es nicht, doch der Luftzug zieht an deinen Haaren, und du blickst auf.
Dort stehen sie, drei Männer in Grauen Uniformen, an denen wirklich alles grau ist: die Hemden, die Stiefel, die Hosen, die Kragen - sogar ihre Gesichter sind grau. Grau sind auch ihre Waffen, fast könnte man sie übersehen vor dem grauen Hintergrund der Uniformen, wäre da nicht diese kleinen, giftig schwarzen Löcher vorne, wo der Lauf aufhört, diese schwarzen Löcher, die permanent auf dich zeigen und dir zuflüstern, aufzuspringen und anzugreifen. Ja, beinahe flehen sie dich an, es zu tun, O`Brien, doch du bist danz ruhig, stehst sehr langsam auf und faltest deine Hände über dem Kopf zusammen.
Oh, wie böse sind die kleinen schwarzen Löcher jetzt, “Feigling!”, zischen sie dir zu, doch du beachtest sie nicht weiter.
Eines sagt: “Sei du nur ruhig, wir bekommen dich ja doch!”, und du weißt, das es die Wahrheit sagt, O`Brien.
Bald, sehr bald schon.
Du gehst langsam auf die grauen Männer zu, zwischen ihnen durch und dann rechts über den Gang vor ihnen her. Du bist froh, aus diesem kleinen Raum hinauszukommen, diesem Raum mit Graffiti und dem stinkenden Klo. Nur ganz kurz drängt sich dir der Gedanke auf, du hättest vielleicht doch nicht hinaus gehen sollen...
Du erschrickst und verdrängst den Gedanken wieder.
Du blickst um dich, ohne den Kopf zu bewegen, und siehst eine ganze Menge von diesen dir sattsam bekannten Stahltüren. Diese hier sind anders, denkst du, denn sie haben Klinken, alle haben Klinken.
Ich bin ja auch auf der anderen Seite, fällt dir ein, und auf einmal hast du einen bitteren Geschmack im Mund.
Du schluckst ein paarmal, doch der Geschmack läßt sich nicht vertreiben. Du überlegst, ob du die grauen Männer bitten sollst, dich noch einmal in den kleinen Raum zu lassen, damit du einen Schluck von diesem köstlich frischen Wasser trinken kannst, doch du fragst sie nicht, denn du weißt ja ganz genau, daß sie es dir nicht erlauben würden.
Also läufst du weiter, du biegst zweimal um Ecken und gehst dann auf einen weiteren Raum zu. Dieser Raum wird dein Ziel sein, O`Brien, du weißt es ganz instinktiv, obwohl die Wand von dir noch mehrere Türen hat. Du bist jetzt genau im Mittelpunkt des Gebäudes, du betrittst diesen Raum, vor dem du weißt, daß du ihn lebend nicht mehr verlassen wirst.
Einmal mehr blickst du um dich. Es ist ein Raum wie viele andere.
Nur ist er größer. Und er hat keine Einrichtungsgegenstände. Seine Stirnwand besteht nicht aus Mauerwerk, sondern aus bis unter die niedrige Decke aufgetürmten Sandsäcke. Einen Meter davor stehen zwei hölzerne Pfähle, von denen kurze Ketten und Handfesseln herab-
hängen. Neben dem rechten Pflock steht ein weiterer grauer Mann.
Er hält ein Tablett in den Händen, auf dem eine Augenbinde, eine Flasche Whisky und ein Päckchen Zigaretten liegen.
Er blickt dir ins Gesicht, doch sein Blick ist leer. Er ist genau so Grau wie deine Bewacher, O`Brien. An der anderer Stirnseite des Raumes, etwa fünfzehn Meter von den Sandsäcken entfernt, ragt der kurze, graue Lauf eines Maschinengewehrs aus der Wand. Er ist Starr eingebaut, und sein kleines, bösartiges schwarzes Loch zielt genau auf die Mitte zwischen den Holzpfählen.
Du bist erleichtert, als du den Lauf als den einer Schnellfeuerwaffe erkennst. Es würde also schnell gehen.
Du gehst mit sicherem Schritt auf den Mann mit dem Tablett zu und senkst die Hände langsam an deine Seite.
Jetzt würde er dich gleich nach deinem letzten Wunsch fragen, und du blickst aufmerksam in sein Gesicht. Wie mußte dieser Mann jetzt fühlen, was dachte er. Du blickst in seine grauen Augen und siehst, daß ihn die Antwort, die du bald auf seine Frage geben würdest, nicht einmal einen feuchten Schmutz intressieren würde.
Auf einmal hast du Angst, Todesangst. Du atmest einmal tief durch, doch das dumpfe Gefühl bleibt in dir, krampft dir den Magen zusammen und läßt dein Herz rasen.
Wie ist das nur möglich, fragst du dich, wie kann es nur so sein?
Doch jetzt ist es zu spät, um zu entkommen und einen gnädigen Schuß in den Rücken zu kriegen, der dich tötet, bevor du ihn hörst.
Wieder schluckst du.
“Haben Sie noch einen letzten Wunsch?” fragt der Mann.
Obwohl du weißt, daß es ihm nicht intressiert, siehst du in ruhig an, öffnest die Lippen und sagst leise, aber fest: “Schenken Sie mir einen Sonnenstrahl!”

 

ENDE

 

 

 

 

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