Schweigen

Es herrschte Schweigen an diesem Tag - es war zwei Tage vor Weihnachten. Die Uhr hatte bereits achteinhalb Stunden verzählt.
Draußen vor der Tür wartete der Vermieter darauf, daß du ihm die Tür aufmachst, nachdem er bisher schon viermal geklingelt hat.
Das letzte Mal sogar Sturm.
Du weißt, er versucht bereits zum zweiten Male, deine Wohnung zu besichtigen. Er hat dir geschrieben und einen Termin festgelegt.
Du weißt auch genau, warum er die Wohnung sehen will: er sucht nach einem Grund, dich herauszukriegen aus diesem Haus, in dem neuerdings Ausländer unerwünscht sind. Natürlich nur solche Ausländer, die eine dunkle Hautfarbe haben.
Die nicht arisch sein können. Diese neuen Herrenmenschen handeln nach derselben verqueren Unlogik wie die alten.
Pech gehabt, armer Neger!
Zwar sprichst du mitlerweile fast akzentfrei Deutsch, schließlich lebst du hier seit fünfundzwanzig Jahren; zwar hast du immer schwer gearbeitet und pünktlich deine Miete bezahlt - aber du bist nunmal ein Nigger.
Und an deiner Hautfarbe kannst du nichts ändern.
Black is horrible.
Schweigen.

*

Nach neun ausgezählten Stunden klingelt es wieder an deiner Tür. Es ist der Postbote, und er bringt ein verfrühtes Weihnachtsgeschenk für dich.
Es ist deine Kündigung zum Jahresende.
Per Einschreiben.
Jetzt, wo die Wirtschaft am Boden liegt und furchtbare Geschöpfe dem rechten Sumpf entsteigen, die sagen, daß das alles deine Schuld ist, jetzt, nach fast fünf Jahren, die du - niemals krank - die schmutzige Arbeit für die Firma gemacht hast, bist du wirtschaftlich nicht mehr zu tragen. Viel Geld hast du nie verdient, keinesfalls war es der Arbeit angemessen.
Jetzt ist auch das zuviel, und der Betrib stellt deine Arbeitskraft dem Markt wieder zur Verfügung. - Es gibt wohl für alles, und sei es noch so furchtbar, einen Euphemismus.
Der Postbote bringt dir die frohe Botschaft.
Du brauchst ihm nicht zu öffnen.
Du weißt es schon vom Betriebsrat.
Für seine Wahl hast du dich stark gemacht, und jetzt stimmt er voller Bedauern deiner Entlassung zu.
Zum dritten Mal klingelt der Postmann.
Schweigen.

*

Nach zehneinhalb Stunden an diesem Tag, der Weihnachten schon vorgestern heißen wird, klingelt das Telefon.
Ob es wohl deine Freundin ist, besser gesagt deine Ex - Freundin, die so wunderschönes honigblondes Haar hat?
Über Jahre hinweg wart ihr ein Paar, bevor das Klima in diesem Lande einfror.
Sicher, den einen oder anderen "Witz" habt ihr euch immer anhören müssen.
Massive Drohungen sind etwas anderes.
Da hat sie der Mut verlassen.
Kannst du es ihr verübeln?
Das Telefon klingelt zwölfmal.
Dreizehnmal.
Vierzehnmal.
Schweigen.

*

Sechzehn zählt die Uhr.
Vor der Tür steht der Freund, vielleicht der einzige Weiße, der noch zu dir hält.
Der dich nicht einmal verließ, als die Hautköpfe euch verfolgten.
Ihn erwischten.
Und zusammenschlugen.
Der immer für dich da war, steht draußen und klingelt.
Du hast ihm einen Schlüssel zu deiner Wohnung anvertraut - leider steckt dein eigener Schlüssel innen auf dem Schloß.
Dein Freund.
Er lag Wochen im Krankenhaus. Täglich hast du ihn besucht, hast die Feindschaft seiner Familie gespürt, die dir entgegenschlug, denn ihm waren deine Wunden geschlagen worden.
Du konntest ihm die Schmerzen nicht abnehmen. Unmöglich.
Daß er trotz allem dein Freund blieb, hatte dein Schuldgefühl nur noch erhöht.
"Bitte, laß mich doch rein!" sagt dein Freund verzweifelt.
Schweigen.

*

Nach zwanzig verzählten Stunden kommt der Pfarrer, um dich abzuholen, so wie jede Woche seit fast drei Jahren.
Dem Gemeindekreis zur Ausländerintegration wurden von der Stadtverwaltung sämtliche Mittel gestrichen. Das Clubhaus, die Begegnungsstätte, würde zum Jahresende schließen - es ist Kommunaleigentum.
Für Überflüssiges sei jetzt kein Geld da, sagt der Bürgermeister.
Er meint Jugend, Kultur und Gesellschaft.
In den leeren Kassen liegen nur noch die Sündenböcke.
Das große "G" steht immer für Geld, nie für Gemeinschaft.
Ihr habt dagegen gekämpft, du und der Pfarrer und all die anderen. Euer Kampf war legitim und friedlich und darum von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Es war eine Vorweihnachtszeit ohne Hoffnung.
Der Pfarrer konnte stets auf dich bauen.
Er klingelt abermals.
Schweigen.

*

Nach eintausendvierhundertvierzig Minuten Schweigen beginnt die Geisterstunde.
Morgen ist Weihnachten.
Unten vor deinem Fenster steht dein Nachbar und brüllt "Nigger!".
Du hast nie verstanden, warum er dich von Anfang an gehasst hat.
Jetzt hat er Oberwasser. Jetzt traut er sich sein Gegröle, jetzt, wo kein anständiger Deutscher ihm mehr den Mund verbietet.
Früher war er es, der Schiß hatte.
Heute sind es die meisten anderen.
"Besser du als ich!" lautet der Wahlspruch der Rückgratlosen.
Auch nach tausendjährigen Erfahrungen wissen sie nichts von Zivilcourage.
"Besser du als ich!"
Heute du.
Morgen sie.
Vielleicht begegnen sich alle einmal - in den neuen KZ's.
Heute ist es dir egal.
So wie der Hauswirt.
So wie der Postbote.
Sogar wie die Frau, die du nicht einfach aufhören konntest zu lieben.
Und der Freund, der wahrhaftig zu dir steht.
Und der Pfarrer.
Egal.
Eintausendvierhundertvierzig Minuten hast du heute geschwiegen.
Vierundzwanzig Stunden.
Deine Augen starren blicklos immer zur selben Stelle der Decke. Dein Körper liegt im erkalteten Badewasser, nur ganz wenig verkrampft. Dort, wo du dir die Pulsadern durchtrennt hast, tut es schon lange nicht mehr weh.
Heute ist dir alles egal.
Heute bist du tot.
Morgen ist Weihnachten.

 

ENDE

 

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