Der Zielstern

Eine Story aus dem Perry Rhodan - Universum

„Ist es das alles wert?“
Der schlanke, hochgewachsene Mann mit den dunkelblonden Haaren saß in einem Kontursessel unweit vom Kommandopult in der Zentrale des Raumschiffes, das mit hohem Überlichtfaktor den Linearraum durcheilte.
„Sir?“ fragte der Kommandant unsicher, von seiner Konsole aufblickend.
Erst jetzt wurde Perry Rhodan klar, dass er unbewusst leise vor sich hin gesprochen hatte. Trotz seiner melancholischen Gedanken lächelte er leicht, als er sich dem Epsaler zuwendete, der das mächtige Schiff befehligte.
„Es ist nichts, Oberst“, sagte er, „ich habe nur laut gedacht.“
„Verstehe, Sir“, erwiderte der Kommandant indigniert und wandte sich wieder seiner Konsole zu.
Rhodan blickte in das Hologramm, aber er sah nicht die grafisch aufbereiteten Daten, die den Kurs des Schiffes zeigten. Er registrierte ebensowenig den kleinen, grünlich leuchtenden Punkt am Ende einer bläulichen Linie, den Zielstern, weil seine Gedanken bereits wieder abschweiften.
Trübsinn lag eigentlich nicht in seinem Wesen, aber aus Gründen, die er selbst nicht nachvollziehen konnte, wurde er die traurigen Gedanken nicht los.
All die Fährnisse, all die Verluste.
In seinem viele Jahrhunderte umspannenden Leben hatte er so viel gesehen, so viele Abenteuer bestanden, so viele Gefahren überwunden. Und dennoch, er hatte weiß Gott nicht nur gesiegt!
Perry Rhodans Mund verzog sich zur Andeutung eines bitteren Lächelns.
Weiß Gott! dachte er. Gibt es eigentlich so etwas wie Gott?
Die Menschen brauchten schon immer etwas, an das sie fern aller naturwissenschaftlichen Beweise einfach nur glauben konnten, etwas größeres als sie selber, das ihnen Trost spendete, wenn die Verzweiflung sie zu übermannen drohte. Eine vage Hoffnung auf Hilfe, wenn alle Wege im Nichts zu enden schienen.
Rhodan wusste nicht mehr, ob er diesen Glauben hatte. Er hatte Dinge erlebt, Wunder gesehen, die weit über das rationale Erfassen des Menschen hinausgingen.
ES.
Die anderen Superintelligenzen und ihre Mächtigkeitsballungen.
Die Kosmokraten gar.
Wo blieb da der Platz für Gott?
Früher hatte er geglaubt, er, der Terraner, dass ein Wesen, je weiter seine Evolution voranschritt, desto nobler und uneigennütziger werden würde. Edler.
Heute war Rhodan sich dessen nicht mehr so sicher ...
Letztendlich folgten auch die hohen Mächte hinter den Materiequellen einer Agenda, die er zwar nicht verstand, die aber alles andere als nobel und uneigennützig war. Ganz zu schweigen von edel.
Und die „normalen“, die „niederen“ Wesenheiten – so wie er – zahlten regelmäßig den Preis, wenn die Götter Schach spielten.
Wo lag der Sinn darin?
All das Leid.
All der Tod.
Wieviele geliebte Menschen, wieviele Freunde hatte Perry Rhodan in dieser unfassbar langen Zeit, auf dieser unglaublich langen Reise, die sein Leben war, verloren?
Thora.
Mory.
Suzan.
Wie ein geisterhaftes Wispern erklangen die Namen in seinen Gedanken.
Ivan Ivanowitsch.
John.
Ribald.
Mehr Namen.
Viel mehr.
Und die Erde. Die wunderschöne Erde, seine Heimat und die Heimat der Menschheit, die unter seiner Führung so viele Schrecken und Gefahren hatte erleben und erleiden müssen.
Millionen Namen von Opfern in den Grabstätten der Jahrhunderte, bestensfalls vage Erinnerungen in den Gedanken der Menschen, die heute lebten.
Meist vergessen.
Terra hatte so manches Mal vor der Zerstörung gestanden, war verwüstet worden, wieder aufgebaut, erneut verwüstet ...
Rhodan seufzte leise.
Auch das wurde ihm erst nachträglich bewusst, aber ein schneller Blick zum Kommandanten zeigte ihm, dass der Epsaler ihn diesmal nicht gehört hatte – jedenfalls beachtete er Rhodan nicht weiter, was dieser erleichtert zur Kenntnis nahm.
Was ist bloß los mit mir? fragte er sich.
Er hatte keinen kürzlich eingetretenen Verlust zu beklagen, die letzte Mission war vergleichsweise glatt verlaufen, es hatte unter der Besatzung keine Todesopfer gegeben – woher stammten dann all diese trüben Gedanken?
Perry Rhodan wusste es nicht.
Und jetzt hatte er auch keine Kraft, sich von ihnen loszureißen.
Er gab sich der Melancholie hin.
Sogar die beruhigenden, ja, beinahe aufmunternden Impulse des Aktivators, seines mechanischen Gefährten durch die Unendlichkeit, er ignorierte sie.
War der Aktivator nicht eher eine Höllenmaschine?
Zwang sie ihn nicht dazu, immer und immer wieder Menschen zu verlieren, die ihm nahe standen, auch wenn diese nicht gewaltsam umkamen?
War das Gerät nicht mechanischer Ausdruck eines furchtbaren Fluches, der auf ihm lastete, der ihn zwang mitanzusehen, wie seine Heimat eine schreckliche Prüfung nach der anderen erdulden musste?
War er, der Unsterbliche, der Mensch in seiner Hybris, nicht verantwortlich für all das?
Für das Leid?
Die vielen, vielen Tode?
Nur weil er das Universum erforschen wollte, sich einbildete, seine Wunder ergründen, ja, sogar verstehen zu wollen?
Woher nahm er das Recht dazu?
War es das wirklich alles wert?
Als der Alarm ertönte, zuckte Perry Rhodan heftig zusammen, so tief war er in seinen negativen Gedanken versunken gewesen.
„Einflug ins Sol-System“, meldete der Kommandant mit routinierter Gelassenheit.
Das Schiff würde nun bald, in wenigen Sekunden, den Linearraum verlassen und sein Ziel erreicht haben.
Rhodan straffte seinen Körper und hob den Kopf. Auf dem großen Brückenholo wurde das Bild des wesenlosen Waberns der Librationszone plötzlich, einem Lidschlag gleich, der das Sehen für einen winzigen Bruchteil einer Sekunde unterbrach, um dem Betrachter dann ein völlig neues Szenario darzubieten, vom Anblick der Erde abgelöst.
Dort war er, der blaue Planet.
Wie seit Äonen – nur unwesentliche Zeit unterbrochen – schwebte Terra durch die tote Finsternis des Weltraums und war doch so strahlend schön in seinem herrlichen Glanz, wie es eine kosmische Perle im Licht der Leben spendenden Sonne Sol nur sein konnte.
Der erste Eindruck war der wunderbare Kontrast tiefblauer Ozeane und scheeweißer Wolkensphären, bis sich dem Betrachter beim Näherkommen die grün und braun und grau schimmernden Landmassen der Kontinente mit ihren Ebenen und Gebirgsketten dazwischen erschlossen.
Perry Rhodan konnte sich diesem Anblick, den er schon wahrlich unzählige Male gesehen hatte, nicht entziehen, er konnte sich von dieser Pracht und Erhabenheit der Schöpfung nicht abwenden, und mit einemmal schienen seine trüben Gedanken wie weggewischt im Antlitz der freundlichen Urmutter.
Und wieder seufzte er, doch diesmal war es ein Ausdruck von tiefer, innerer Freude.
Er war heimgekehrt.
Und plötzlich war da ein Gedanke, der die Melancholie angesichts dieses betörenden Spektakels endgültig fortwischte.
Ja, dachte Perry Rhodan, und nicht der leiseste Hauch eines Zweifels nagte an ihm, das ist es wert! Das ist es wirklich wert!
Heimkehr.

E N D E

 

 

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